Jan Fabel 01 - Blutadler
hielt die Tür auf, und der jüngere, der wie ein Bodybuilder gebaut war, trat ein und legte die kurze Entfernung zu Hansis Bett mit wenigen Schritten zurück. Der Schrei, der in Hansis Kehle aufstieg, wurde von der mächtigen Hand erstickt, die seinen Mund umklammerte. Der ältere Mann schloss die Tür hinter sich. Lächelnd holte er einen Metallbehälter aus der Tasche seines braunen Ledermantels. Er neigte den Kopf ein wenig und schüttelte die rechteckige Schachtel zwischen Finger und Daumen wie ein Vater, der sein Kind mit einer Tüte Bonbons neckt.
»Gleich bist du glücklich, Hansi«, sagte er mit einer Stimme, die man fast als freundlich hätte bezeichnen können, öffnete die Schachtel und nahm eine Einwegspritze heraus. »So glücklich wie noch nie in deinem Leben.«
Hansi versuchte aufzubrüllen, aber der jüngere Mann stopfte ihm einen übel schmeckenden Lappen in den Mund, bevor er seinen Arm mit Gewalt gerade bog und seinen Ärmel hochzog.
In dem Sekundenbruchteil, bevor das tödliche pure Heroin in seinen Körper drang, zuckten Hansis Augen zwischen den Gesichtern der Männer hin und her. Die Worte Ich weiß, wer ihr seid ... Ich habe euch gesehen, und ich weiß, wer ihr seid erstarben unter dem schmutzigen Lappen auf seiner gelähmten Zunge. Dann ergriff das Heroin von Hansis dürrem Körper Besitz. Als sie ihm den Lappen aus dem Mund gezogen hatten und ihm den Rücken zuwandten, um ihn allein sterben zu lassen, glaubte er, frisch gewaschene Bettbezüge riechen zu können.
Polizeipräsidium Hamburg,
Samstag, den 21. Juni, 4.00 Uhr
Die Atmosphäre im Konferenzzimmer war eine seltsame Mischung aus Aufregung und Erschöpfung. In den frühen Morgenstunden vor der Dämmerung versuchten kurz zuvor geweckte Beamte und andere wie Fabel, Maria, Paul und Anna, die überhaupt noch nicht geschlafen hatten, ihre Müdigkeit abzuschütteln. Sogar die Faszination darüber, sich ihrer Beute zu nähern, wurde durch die allgemeine Mattigkeit gedämpft. An den Telefonen hörte man das Gewirr von Stimmen, die Beamte über ganz Europa hinweg, von Hamburg bis Kiew, weckten.
Den Mittelpunkt des Geschehens bildete der Mann, dessen vergrößertes Foto an die Schautafel geheftet war: Wassyl Witrenko. Seine kalten grünen Augen, die an das boshafte Heldenporträt eines osteuropäischen Diktators erinnerten, starrten jene, die ihn aufspüren wollten, herausfordernd an. Neben Witrenkos Bild hingen Abzüge der Fotos aus der Scheune, die sein Vater geliefert hatte. Als Fabel sie an die Tafel heftete, hatte das verblüffte Entsetzen den Aufruhr im Raum zeitweilig gedämpft.
Maria, die recht gut Englisch und ein wenig Russisch sprach, hatte widerwilligen Polizeibeamten in Odessa und Kiew telefonisch zugesetzt. Außerdem hatte sie die Datenbanken von Europol und Interpol überprüft und die eine oder andere Einzelheit gefunden, mit deren Hilfe man sich die Persönlichkeit hinter dem Bild auf der Schautafel vorstellen konnte.
Fabel nutzte einen Moment relativer Stille, um die meisten Teammitglieder zusammenzurufen. Dann warteten sie, bis ihre noch telefonierenden Kollegen ihre Gespräche beendet hatten. Die Handknöchel auf das polierte Kirschholz des Tisches gestützt, stand Fabel vor der Ereignistafel. Er atmete scharf durch, bevor er die Mitteilungen des Ukrainers wiedergab. Im Zimmer breitete sich eine intensive Stille aus, als wäre die Luft zusammengeschnürt und dann straff gedehnt worden, während er den Bericht des alten Mannes wiederholte: über die Verfolgung seines Sohnes durch die Berge und wüstenartigen Ebenen von Afghanistan und über die Spur zunehmender Gräueltaten, die schließlich in die Scheune geführt hatte. Dann umriss Fabel seine neuen Kenntnisse über die Morde in Kiew.
»Also gut, Leute. Wir haben unzweifelhaft einen Hauptverdächtigen, aber obwohl uns die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl ausstellen dürfte, fehlt es an soliden Beweisen, um ihn unschädlich zu machen.« Fabel drehte sich um und pochte an das vergrößerte Porträt. »Oberst Wassyl Witrenko, ehemaliges Mitglied des Berkut oder Goldadler, das heißt der ukrainischen Anti-Terror-Einheit. Er ist fünfundvierzig Jahre alt und ein abgebrühter, unbarmherziger Hurensohn. Wir haben Berichte - wenn auch nach der Tat - darüber, wie Witrenko Massenmorde nach genau dem gleichen Verfahren wie hier in Hamburg inszeniert hat. Außerdem gibt es eine identische Mordserie in Kiew. Aber auch das nützt uns nicht viel, weil wir
Weitere Kostenlose Bücher