Jan Fabel 01 - Blutadler
und meldete sich. »Du hast dich wirklich gut geschlagen, Anna«, lobte Paul. »Aber wir haben nicht viel gewonnen. Er hat nichts gesagt oder getan, was ihn mit den Entführungen oder den Morden in Verbindung bringen könnte.«
Anna antwortete nicht, sondern schaute weiterhin in die Richtung, in die MacSwains Porsche verschwunden war. Tief in ihrem Innern lauerte der Ekel, der sie bei jeder Berührung durch den Mann erfasst hatte.
»Ich habe ein bestimmtes Gefühl, wenn ich an MacSwain denke«, sagte sie, ohne Paul anzuschauen. »Eine starke physische Reaktion ihm gegenüber.«
Paul lachte verhalten. »Weibliche Intuition?«
»Nein«, erwiderte Anna mit leiser, doch scharfer Stimme. »Polizisteninstinkt.«
»Jedenfalls scheinst du das alles umsonst durchgemacht zu haben«, seufzte Paul. »Ich vermute, Mister MacSwain ist nichts anderes als ein Yuppie und Frauenheld.«
»Anscheinend hast du Recht.« Maria klappte ihr Handy zu. »Das war Fabel ... endlich. Er scheint auch einen bewegten Abend gehabt zu haben. MacSwain ist kein Thema mehr. Wir haben einen Namen für den Mörder: Wassyl Witrenko.«
Anna wandte sich zu ihren Kollegen um. Ihre dunklen Augen funkelten kalt im Neonlicht von St. Pauli. »Mir ist egal, was Fabel herausgefunden hat. Ich weiß, dass MacSwain etwas Böses an sich hat. Er ist der Mörder. Ich weiß es einfach.«
Hamburg-Harburg,
Samstag, den 21. Juni, 1.04 Uhr
Obwohl es eine milde Nacht war und er sich mit seinem schweren Armeemantel zugedeckt hatte, zitterte Hansi Kraus auf seiner stinkenden Matratze. Seine magere Gestalt krümmte sich vor Schmerzen, seine Zähne klapperten aufeinander, und er hatte das Gefühl, dass eine Ratte unablässig an seinen Eingeweiden nagte. Vielleicht hätte er nicht in das besetzte Haus zurückkehren sollen, aber er brauchte ein warmes Plätzchen und eine Möglichkeit, sich mit welchen Mitteln auch immer einen Schuss zu setzen. Unglücklicherweise hatte er bisher keinen Erfolg gehabt. Hier war er ungeschützt, aber er musste an Stoff kommen. Morgen würde er zu den Türken gehen und ihnen erzählen, was er auf dem Polizeipräsidium gesehen hatte. Die Türken würden wissen, was zu tun war, und ihm vielleicht sogar ein bisschen Stoff auf Pump geben. Außerdem hatte er einen Brief an seine Mutter geschrieben - die erste Nachricht seit fünf Jahren, dass er noch lebte. Darin bat er sie um Vergebung dafür, dass er jede Hoffnung, jeden Traum, den sie früher für ihren einzigen Sohn hegte, zerstört hatte. Nach einem Jahrzehnt der Furcht und der Gefahr und nach fünf Jahren, in denen seine Mutter und seine Schwestern ihn wahrscheinlich für tot gehalten hatten, konnte Hansi den Gedanken nicht mehr zurückdrängen, dass seine Zeit jetzt vermutlich gekommen war. Also musste er Wiedergutmachung leisten und eine Botschaft hinterlassen, die über sein Leben hinaus Bestand haben würde.
Hansi hatte Angst. Das war sein normaler Zustand, doch seine Furcht hatte eine neue Stufe erreicht. Irgendwo tief in seiner Psyche versteckten sich Kindheitserinnerungen, die nicht wie das Fleisch, das seinem Körper einst eine gewisse Form gegeben hatte, zerschmolzen waren. Immer wenn Hansi krank oder verängstigt gewesen war, hatte seine Mutter ihn mit einem gedämpften Licht neben dem Bett schlafen lassen. Hansi, das Gespenst, kehrte nun zurück zu Hansi, dem Kind, und entsann sich an das warme, weiche Licht, den Geruch frischer Bettwäsche, das Gefühl glänzender Haut nach dem Bad und die Freude und behagliche Sicherheit, die er empfunden hatte, wenn er sich in sein Bett kuschelte. Jetzt, zwanzig Jahre später, hatte Hansi nur eine nackte Glühbirne, die traurig an der Decke brannte - ein unwirksamer Talisman gegen das Frösteln, die Schmerzen und die Schrecken, die seinen abgezehrten, schmachtenden Körper quälten.
Er hörte Schritte auf dem Treppenabsatz. Normalerweise hätte er sie ignoriert, denn in dem besetzten Haus kamen und gingen unablässig Menschen. Manche waren betrunken oder high, andere prügelten sich oder stießen im Schlaf Schreie aus. Hansi spitzte die Ohren, aber die Schritte hatten Halt gemacht. Sie waren nicht verklungen, sondern hatten ganz plötzlich aufgehört.
Hansi hatte sich gerade auf einen Ellbogen erhoben, als die Tür langsam aufging. Er hatte erwartet, dass sie die Tür aufreißen würden, statt sie sanft und leise zu öffnen, wie seine Mutter es getan hatte, als sie in seiner Kindheit ins Zimmer schaute. Der ältere Mann
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