Jan Fabel 01 - Blutadler
Slawe schien sich von der Mordszene entfernt und in der Nacht aufgelöst zu haben. Zwar hatte Dorn der rituellen Metzelei des Mörders einen Namen und eine Herkunft gegeben, doch man war nicht näher daran, den Täter zu fassen. Außerdem machte sich Fabel große Sorgen um Mahmoot, mit dem er immer noch keinen Kontakt hatte herstellen können. Mahmoot war notorisch schwer zu erreichen, doch er musste wissen, dass er Alarmglocken losschrillen ließ, wenn er Fabels Anrufe nicht beantwortete.
Fabel tappte nicht als einziger Hamburger Polizist im Dunkeln. Fast alle Gesetzeshüter der Stadt waren irritiert, weil kein Bandenkrieg ausbrach. Nach Ulugbays Ermordung war es zu keinerlei Vergeltungsschlägen gekommen. Überhaupt schienen alle Gewalttaten zwischen den Banden auszubleiben, was sehr seltsam anmutete. Im Präsidium wimmelte es immer noch von BND- und LKA 7-Personal, aber die aufgepeitschte Hektik war in eine unbehagliche, frustrierte Bereitschaft übergegangen.
Die Ermittlungen schienen das Licht aus Fabels Leben zu saugen. Es war nicht das erste Mal, und es würde nicht das letzte Mal sein. Er schien sich einen Pfad durch einen dichten Dschungel aus klebrigem Dickicht zu hacken, nur um festzustellen, dass sich die Pflanzen hinter ihm wieder schlossen und ihm den Rückweg in sein eigenes Leben und in die Welt der von ihm geliebten Menschen versperrten. Die einzige Möglichkeit war, sich einen Weg nach vorn, hinaus ins Licht zu bahnen.
Fabel hatte seine Tochter Gaby angerufen. Sie hatte das Wochenende bei ihm verbringen sollen, aber er erklärte, dass er wenigstens einen Teil der Zeit arbeiten müsse. Es schmerzte ihn, seine kostbaren Tage mit Gaby aufzugeben, aber sie hatte wie üblich Verständnis gezeigt. Renate, Fabels Exfrau, hatte weniger positiv reagiert; ihre Stimme am Telefon war von bissiger Resignation durchsetzt gewesen.
Statt mit seinem eigenen Auto zu fahren, hatte Fabel ein Taxi angehalten, das ihn zu den überdachten Alsterarkaden brachte. Die Sonne schien, und da - ungewöhnlich für Hamburg - kein Wind wehte, war es auf den Straßen angenehm warm. Wie immer drängten sich die Käufer in den Arkaden, und Fabel schob sich gemächlich, doch zielbewusst durch die Menge. Er steuerte auf die Buchhandlung Jensen zu, die von einem seiner früheren Kommilitonen, Otto Jensen, geleitet wurde.
Fabel liebte den Buchladen. Otto hatte in die eleganteste, minimalistischste Innenausstattung - saubere, gerade Buchenregale und -tische und helle Beleuchtung - investiert, höchstwahrscheinlich auf Geheiß seiner unendlich besser organisierten und stilbewussteren Frau Else. Otto war ein Konzentrationspunkt des Chaos: ein schlaksiger, fast zwei Meter großer Wirrwarr aus Armen und Beinen, der dauernd Dinge umzuwerfen oder Stapel von Büchern und Papieren fallen zu lassen schien. Auf jeder Oberfläche, nicht nur auf Regalen, Tischen und Tresen, sondern auch auf dem Fußboden, häuften sich Bücher und Zeitschriften. Das Sortiment war gewaltig, und die Unordnung hatte zur Folge, dass jeder Besuch zu einer Entdeckungsreise wurde. Auf eine seltsame Art schien das Durcheinander der Sprache von Büchernarren Ausdruck zu geben. Diese Sprache verstand Fabel.
Otto saß hinter dem Tresen. Er hatte ein Buch auf dem Schoß. Seine Ellbogen waren auf die Knie und sein Kopf auf die Hände gestützt. Mit dieser Pose brachte Fabel ihn seit den gemeinsamen Universitätstagen in Verbindung. Es war, als ziehe Otto seine dürren Glieder zusammen, um einen Käfig zu bilden. Dadurch kapselte er sich von der Außenwelt ab und überließ sich ganz dem Universum, das zwischen den Deckeln des jeweiligen Werkes existierte.
Fabel trat an den Tresen und lehnte beide Ellbogen auf einen Stapel Bücher. Otto brauchte zwei Sekunden, um wahrzunehmen, dass jemand vor ihm stand.
»Entschuldigung ... Kann ich Ihnen ...« Die Frage ging in ein breites Lächeln über. »Sieh an, es ist ein Hüter des Gesetzes ...«
Fabel grinste. »Hallo, Otto, du alte Träne.«
»Hallo, Jan. Wie geht's dir?«
»Nicht schlecht. Und dir?«
»Beschissen. Ich hab ein Geschäft voller Leute, die herumschmökern, bis sie etwas finden, das ihnen gefällt. Aber dann gehen sie in die Bücherei und leihen es sich dort aus. Und die Miete hier ist astronomisch hoch. Das ist eben der Preis für eine gute Lage, sagt Else.«
»Was macht Else?«, fragte Fabel. »Hat sie immer noch nicht gemerkt, dass sie viel zu gut für dich ist?«
»O nein, das erzählt sie mir
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