Jan Fabel 01 - Blutadler
veröffentlicht hatte, um ihre Identität zu klären. Sie kannte die Frau nicht und sah keinen Zusammenhang mit Ursula Kastner oder den anderen Ergebnissen ihrer Nachforschung. Entweder war dieser zweite Mord eine Nachahmung, oder es gab irgendein Bindeglied, das sich Angelika noch verbarg.
Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und wiegte ihre Kaffeetasse in den Händen, während sie die verstreuten Zettel musterte. Sie waren die Bestandteile einer Maschine, die zusammengesetzt werden sollte, aber Angelika wusste nicht, wie die Maschine funktionierte und welche Funktion sie letztlich hatte. Sicher, wenn all diese Bestandteile zusammengefügt werden konnten, würde sich eine unglaubliche Story ergeben: ein Hamburger Senator, das Amt des Ersten Bürgermeisters, Neonazis, ein führendes Medienunternehmen und - im Mittelpunkt von allem - ein gesichtsloser ukrainischer Spezialtruppenkommandeur, dessen Grausamkeit dafür gesorgt hatte, dass andere seinen Namen kaum auszusprechen wagten: Wassyl Witrenko.
Sie trank einen Schluck Kaffee und versuchte, sich einen Moment lang von dem Rätsel zu lösen. Manchmal muss man den Blick abwenden, bevor man sich neu konzentriert, um das zu erkennen, was man die ganze Zeit vor Augen gehabt hat.
Das Schrillen der Türklingel ließ sie zusammenzucken. Sie seufzte, stellte ihre Tasse auf die ausgebreitete Karte und ging zur Sprechanlage hinüber.
»Wer ist da?«
»Hier ist Kriminalhauptkommissar Fabel von der Polizei Hamburg. Sie haben versucht, mich zu erreichen. Darf ich raufkommen?«
Angelika warf einen Blick auf ihren Bademantel und ihre Hausschuhe und fluchte leise. Sie seufzte und drückte auf den Knopf des Türöffners. »Natürlich, Herr Fabel. Kommen Sie rauf.« Sekunden später hörte sie die im Flur widerhallenden Schritte. Sie öffnete die Tür, hakte die Kette jedoch nicht aus. Der Mann im Flur hielt eine ovale Kripomarke hoch. Angelika lächelte und öffnete die Türkette.
»Bitte entschuldigen Sie, Herr Fabel. Ich hatte niemanden erwartet.« Sie trat zur Seite, um ihn einzulassen.
Hamburg-Pöseldorf,
Samstag, 14. Juni, 23.30 Uhr
Das Mondlicht drang durch die bis zum Boden reichenden Fenster und warf geometrische Figuren auf den Fußboden und die Wände von Fabels Schlafzimmer. Es betonte die Kurven von Susannes Körper, der sich auf ihn senkte. Und es warf ihren Schatten an die Wand, als der sanfte, ruhige Rhythmus ihres Liebesspiels heftiger wurde.
Danach lag Susanne auf dem Rücken und Fabel auf der Seite. Er stützte seinen Kopf auf einen Ellbogen und musterte das vom Mondlicht hervorgehobene Profil seiner Geliebten. Er hob den Oberkörper und schaute auf sie nieder. Zärtlich strich er ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Bleibst du über Nacht?«
Susanne stöhnte behaglich. »Es ist so bequem, dass ich nicht aufstehen und mich anziehen möchte.« Sie lächelte schelmisch. »Aber ich bin nicht müde genug, um zu schlafen.«
Fabel wollte gerade antworten, als das Telefon klingelte. Er lächelte Susanne resigniert an und sagte: »Vergiss das nicht. Ich bin sofort wieder da.«
Er ging nackt zum Telefon. Es war Karl Zimmer, der Dienst habende Kommissar der Mordkommission.
»Tut mir Leid, dich zu stören«, sagte Zimmer, »aber es liegt etwas Wichtiges vor.«
»Was denn?«
»Wir haben eine neue E-Mail von ›Son of Sven‹ bekommen.«
E-MAIL
VON: SON OF SVEN
GESENDET: 14.JUNI 2003, 23.00 UHR
AN: ERSTEN KRIMINALHAUPTKOMMISSAR JAN FABEL
POLIZEI HAMBURG
MORDKOMMISSION
BETREFF: WORTE
ICH BIN, WIE SIE GEMERKT HABEN WERDEN, EIN MANN WENIGER WORTE. DAS OPFER DAGEGEN WAR EINE FRAU VIELER WORTE.
ICH SCHÄTZE FRAUEN NICHT, DIE IHRE HAUPTAUFGABE NICHT ERFÜLLEN, SONDERN EINE EGOISTISCHE KARRIERE ÜBER DAS NATÜRLICHE FORTPFLANZUNGSGEBOT STELLEN. DIESE WAR SCHLIMMER ALS DIE MEISTEN. SIE SAH ES ALS IHRE BERUFUNG AN, JENE ZU VERLEUMDEN, DEREN HOHE GESINNUNG SIE NIEMALS AUCH NUR ANSTREBEN KONNTE: SOLDATEN, DIE GEGEN ANARCHIE UND CHAOS KÄMPFTEN.
ICH HABE DIESMAL EINE ÜBERRASCHENDE WENDUNG HINZUGEFÜGT. SIE GLAUBTE, ICH SEI SIE, HERR FABEL. SIE WURDEN VON IHR ANGEFLEHT, IHR LEBEN ZU VERSCHONEN. ES WAR IHR NAME, DER SICH IN IHR HIRN EINBRANNTE, ALS SIE STARB. SIE HAT IHRE SCHWINGEN AUSGEBREITET.
SON OF SVEN
Polizeipräsidium Hamburg,
Sonntag, den 15. Juni, 1.30 Uhr
»Entschuldigt, dass ich euch zu einer so gottlosen Stunde hergerufen habe«, sagte Fabel, aber seine geschäftsmäßige Miene zeigte, dass seine Worte reine
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