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Jan Fabel 01 - Blutadler

Titel: Jan Fabel 01 - Blutadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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ich sie auch benachrichtigen?«
    »Nicht nötig, Werner, darum kümmere ich mich schon.«
    Werner lachte. »Das kann ich mir vorstellen, Chef. Sehr gut sogar.«
    Fabel rasierte und duschte sich und zog ein englisches Sea-Island-Hemd und einen hellgrauen Einreiher an. Da er bis zu seiner Verabredung mit Susanne noch eine Stunde Zeit hatte, blätterte er den Ordner aus Cuxhaven durch. Fabel hielt sich für alles andere als konservativ und tat sein Bestes, um allem Neuen gegenüber aufgeschlossen zu sein, doch manchmal fragte er sich, was zum Teufel auf der Welt vor sich ging. Natürlich waren Vergewaltigungen nichts Ungewöhnliches, aber nun gab es dort draußen junge Männer, die Frauen zu diesem Zweck routinemäßig mit Drogen betäubten, obwohl dadurch ein dauerhafter Hirnschaden hervorgerufen werden konnte. Der Gedanke irritierte Fabel und erfüllte ihn mit Grauen vor der Zukunft. Aber dieser Mann war anders, denn er gehörte zu einer okkulten Gruppe. Und deren Taten hatten offenkundig eine rituelle Bedeutung. Der Mann benutzte eine Drogenmischung, um Opfer für sich selbst und andere gefügig zu machen. Vielleicht auch überhaupt nicht für sich selbst.
    Fabel holte das Stück Papier hervor, auf dem er die fotografierten Umrisse des entzündeten Mals auf Michaela Palmers Stirn nachgezeichnet hatte. Maß er der Sache zu viel Bedeutung bei? Schließlich konnte es sich um eine beliebige Anordnung von Linien statt um eine Rune handeln. Aber das war nicht plausibel. Die Entführer hatten die junge Frau mit einem Symbol markiert. Fabel war sich recht sicher, dass es sich um die Rune Gebo handelte, die bei den Wikingern für den Laut »g« stand. Aber er wusste auch, dass Futhark-Runen neben ihrem phonetischen einen symbolischen Wert hatten, der sich auf die nordischen Götter und Mythen bezog.
    Er ging hinüber zu seinem Bücherschrank und zog zwei schwere Nachschlagewerke hervor. Eines war das gleiche Buch, das MacSwain gekauft hatte. Otto hatte es ihm geliehen. Fabel überflog die Seiten und fand schließlich, was er gesucht hatte. Er runzelte die Stirn, während er den Eintrag las, und notierte sich die entscheidenden Punkte auf demselben Zettel. Die Rune Gebo stand für Opfer an die Götter und für Geschenke von ihnen. Opfer. Es war die siebte Rune. Die Zahl Sieben. - Fabel erinnerte sich daran, dass Dorn über die Wichtigkeit von Zahlen im Glaubenssystem der Wikinger gesprochen hatte. Gebo war die Rune, die am häufigsten mit dem »Blot« oder Opferritual verknüpft wurde.
    Konnte es eine Verbindung zwischen diesen Überfällen und den beiden Morden geben? Michaela Palmer war nicht nur mit einem rituellen Zeichen markiert worden, sondern mit einer Opfer-Rune. Aber wenn sie und die andere Frau geopfert werden sollten, warum hatte man sie dann freigelassen? Man hatte sich Mühe gegeben, die Spuren des Mals zu entfernen, und beide Frauen waren so stark betäubt worden, dass sie fast keine Erinnerung an die Vergewaltigungen haben würden. Bei der ersten Besprechung nach dem Mord in St. Pauli hatte Susanne auf die Möglichkeit hingewiesen, dass vor dem Hauptereignis Proben stattgefunden hatten. Doch das passte, wenn Fabels Instinkt ihn nicht trog, nicht zu dem Tätertyp, den er verfolgte. Außerdem waren die Überfälle keine Proben. Es hatte keine Eskalation gegeben, denn die beiden Frauen waren nach den Morden verschleppt und vergewaltigt worden. Fabel ließ das Buch auf die Couch neben sich fallen und blickte aus dem Fenster über die Alster hinweg. Es wurde Zeit aufzubrechen, denn er wollte nicht, dass Susanne vor ihm eintraf und auf ihn warten musste.
    Wäre seine fast manische Ordnungsliebe nicht gewesen, hätte er das Bild nicht entdeckt. Er erhob sich von der Couch, um die beiden Nachschlagewerke zurück ins Regal zu stellen. Bevor er das Buch aus Ottos Geschäft wieder im Schrank verstaute, blätterte er die Seiten noch einmal geistesabwesend durch. Und da sah er ihn: einen ganzseitigen Farbholzschnitt von Odin. Das Material war auf primitive, doch eindrucksvolle Weise zu dem bärtigen Gesicht eines brüllenden, Zähne fletschenden Berserkers gestaltet worden. Es war das Gesicht des allwissenden Odin. Und der Preis, den Odin hatte bezahlen müssen, um aus dem Brunnen der Weisheit zu trinken, war ein Auge gewesen.
    Deshalb hatten alle das gleiche Gesicht, als sie Michaela Palmer vergewaltigten, dachte Fabel. Alle hatten eine Maske getragen. Die Maske des einäugigen Odin.
     

 
    Hamburg-Pöseldorf,
    Samstag,

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