Jan Fabel 01 - Blutadler
Formalität waren. Die Gestalten am Tisch hatten die geschwollenen Augen von Menschen, die man unverhofft geweckt hat, doch niemand beklagte sich. Alle begriffen, wie wichtig das Eintreffen einer neuen E-Mail war. »Aber diese neue E-Mail enthält ein paar unerfreuliche Einzelheiten, um mich vorsichtig auszudrücken.«
Werner, Maria, Anna und Paul nickten bekümmert. Susanne saß ebenfalls am Tisch, und die anderen hatten wissende Blicke ausgetauscht, als sie zusammen mit Fabel eintraf.
»Was also verrät diese E-Mail uns?« Fabels Geste forderte alle zu einer Antwort auf.
Maria ergriff als Erste das Wort. »Dadurch wird auf ziemlich unangenehme Art bestätigt, dass er sich als Polizist tarnt. In diesem Fall nimmt er deine Identität an.«
»Ich trage keine Uniform, also kann er sich nicht als Schutzpolizist ausgeben.«
»Es sieht so aus, als hätte er sich eine Kripomarke oder einen Dienstausweis besorgt - oder beides«, meinte Werner.
»Was ist mit dem Opfer?«, fragte Fabel. Er erinnerte sich an die Behauptung in der E-Mail, dass die Frau in dem Glauben gestorben sei, von ihm, Fabel, ermordet zu werden. Der Gedanke verursachte ein widerwärtiges Stechen in seiner Brust.
»Er hat sie als ›Frau vieler Worte‹ beschrieben?«, meinte Maria.
»Eine Schauspielerin?«
»Gut möglich«, sagte Susanne. »Aber denken Sie daran, dass er ein Psychopath mit einer verzerrten Weltsicht ist. Vielleicht war sie einfach jemand, der seiner Meinung nach zu viel geredet hat.«
»Aber er behauptet, dass sie Soldaten verleumdet hat. Es klingt eher nach jemandem mit einem Publikum«, warf Paul Lindemann ein.
»Was ist mit der E-Mail selbst?«, fragte Fabel. »Ich nehme an, wir haben eine falsche IP-Adresse?«
»Der Technische Dienst kümmert sich darum«, antwortete Maria.
»Ich habe den Leiter aus dem Bett geholt, damit er die Sache untersucht. Er war nicht gerade erfreut darüber.«
Werner sprang plötzlich auf. Sein Gesicht war von Zorn und Frustration verdunkelt. Er trat hinüber an die Obsidianscheibe des Fensters, in der sich das Zimmer widerspiegelte. »Wir können nur warten, bis ihre Leiche entdeckt wird. Er hat uns keine Anhaltspunkte hinterlassen.«
»Du hast Recht, Werner«, entgegnete Fabel mit einem Nicken. Er schaute auf seine Armbanduhr. »Ich glaube, wir sollten jetzt alle noch etwas schlafen. Am besten treffen wir uns, sagen wir, um zehn Uhr wieder hier.«
Sie standen erschöpft auf, als das Telefon des Konferenzzimmers klingelte. Anna Wolff war ihm am nächsten und hob den Hörer ab. Plötzlich war die Mattigkeit aus ihrem Gesicht gewischt. Sie hielt die andere Hand hoch, damit ihre Kollegen im Zimmer blieben.
»Das war der Technische Dienst«, sagte sie. »Sie haben eine echte IP-Adresse vom Provider. Sie gehört einer Angelika Blüm. Wir haben eine Adresse in Uhlenhorst.«
»Mein Gott«, stöhnte Fabel. »Das ist die Journalistin, die versucht hat, mich zu erreichen.«
»Eine Journalistin?«, fragte Maria.
»Ja«, sagte Fabel. »Eine Frau vieler Worte.«
Hamburg-Uhlenhorst,
Sonntag, den 15. Juni, 2.15 Uhr
Das Wohngebäude erfüllte sämtliche Kriterien des Hamburger Schicks. Es war in den Zwanzigerjahren errichtet worden und schien vor einiger Zeit umfassend renoviert worden zu sein. Fabel, der einiges von Architektur verstand, vermutete, dass es von Karl Schneider - oder einem seiner Schüler - entworfen worden war. Das Haus hatte keine harten Kanten. Die getünchten Wände wiesen keine Ecken, sondern elegante Kurven auf, und die Fenster der Wohnungen waren hoch und breit. Uhlenhorst hatte nie das gleiche Prestige wie Rotherbaum erlangt, aber es war trotzdem eine wohlhabende und begehrte Gegend.
Zwei Streifenwagen - vom Polizeikommissariat 31, wie Fabel annahm - parkten direkt vor der aus Bronze und Glas bestehenden Tür, die in eine hell erleuchtete Marmorhalle führte. Ein Schutzpolizist stand an der Tür Wache, während ein zweiter einem großen Mann in den Sechzigern lauschte, der lebhaft auf ihn einredete. Fabel hielt hinter dem einen Streifenwagen. Werner und er stiegen aus, als Paul und Anna hinter Fabels BMW bremsten. Fabel schritt zu dem uniformierten Polizisten hinüber, der dem älteren Mann geduldig zuhörte. Die Schulterstücke wiesen den Beamten als Kommissar aus. Fabel zückte seine Kripomarke, und der Polizist nickte bestätigend. Der ältere Zivilist, der das zerzauste Aussehen und die rot geränderten Augen eines aus tiefem Schlaf gerissenen Menschen hatte,
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