Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
warum der Mann nicht stärker zugeschlagen hatte, breitete sich aus zu einer Ewigkeit. Als Max begriff, dass seine Kehle durchgetrennt worden war und dass die Wärme, die wellenartig über seine Schultern und seine Brust strömte, von seinem Blut herrührte, wurde er bereits vom Tod übermannt.
Das Letzte, was er hörte, war die ungewöhnliche Mischung aus der tiefen, hallenden Stimme und dem kindlichen Tonfall seines Angreifers.
»Gescheiter Hans, gescheiter Hans… warum wirfst du ihr keine freundlichen Augen zu?«
42.
Hamburg-St. Pauli, Freitag, den 16. April, 19.40 Uhr
Was war das für ein Geruch? Ein unsauberer Geruch. Schwach, diffus und nicht identifizierbar, aber unangenehm. Scharf. Es war wie der Geruch, den er manchmal bei sich zu Hause wahrnahm. Aber nun schien er ihm zu folgen. Ihn heimzusuchen.
Bernd hatte die S-Bahn genommen. Es war schwierig, auf dem Kiez zu parken, und ihm gefiel die Anonymität öffentlicher Verkehrsmittel, wenn er einen seiner Ausflüge machte. Außerdem würde er wahrscheinlich ein paar Gläschen trinken. Danach.
Eine junge Frau saß ihm gegenüber in der S-Bahn. Sie war Anfang zwanzig und hatte jungenhaft kurz geschnittenes, blondes Haar mit einer rosa Strähne. Ihr Afghanenmantel reichte bis zur Hälfte ihrer Waden und war offen. Ihre Figurwar üppig, fast drall, und das T-Shirt straffte sich über ihren Brüsten. Er starrte auf die blasse, glatte Haut zwischen dem unteren Rand ihres T-Shirts und dem niedrigen Bund ihrer Hipster-Jeans. In der Mitte des nackten Fleisches sah er das Grübchen ihres gepiercten und mit einem Stecker versehenen Bauchnabels.
Das Mädchen blickte hoch, und ihre Augen trafen sich. Er lächelte mit einer, wie er hoffte, spitzbübischen Miene, aber um seine Lippen bildete sich nur ein anzügliches Grinsen. Das Mädchen mimte ein angeekeltes Schaudern, schlug die Seiten ihres Mantels übereinander und legte sich ihre Umhängetasche auf den Schoß. Er zuckte die Achseln, behielt sein Lächeln jedoch bei. Nach ein paar Minuten, in denen seine Augen wieder den entzückenden, doch ihm verborgenen Kurven ihres jungen Körpers zu folgen versuchten, hielt die S-Bahn an der Königstraße. Das Mädchen sprang auf, als sich die automatische Tür öffnete, und funkelte ihn an. »Verpiss dich, du Kotzbrocken.«
Bernd fuhr weiter bis zur nächsten Station. Seine Vorfreude stieg, während er die Treppe hinaufging und in den Abend hinaustrat. Er atmete tief durch und merkte, dass der Geruch immer noch da war. Irgendwo zwischen der feuchten Abendluft und den Verkehrsschwaden. Und überall um ihn herum glänzte St. Pauli.
Die S-Bahnstation liegt im äußersten Westen der Sündigen Meile. Die Reeperbahn zieht sich durch den Kern des Stadtteils St. Pauli. In den Tagen, bevor die Gegend den Namen der örtlichen St. Paulskirche erhalten hatte, hieß sie Hamburger Berg. Es war ein Niemandsland zwischen zwei benachbarten, rivalisierenden Städten gewesen: zwischen dem deutschen Hamburg und dem dänischen Altona. Ein niedrig gelegenes, durchnässtes Sumpfgebiet, in dem beide Städte ihre Abfälle entsorgt hatten. Und ihre unerwünschten Personen. Die Leprakranken wurden hierher geschickt, um, von beiden Gemeinden ausgestoßen, unten am Fluss, im unwirtlichsten Teileines ohnehin unwirtlichen Sumpfes, zu leben. Dann erhielten diejenigen, die nicht in die Zünfte von Altona oder Hamburg aufgenommen wurden, die Erlaubnis, ihr Gewerbe hier auszuüben. Unter ihnen waren die Taumacher oder Reepschläger, die der Reeperbahn ihren Namen verliehen. All diese Handwerker hatten die Freiheit, ihrer anderswo nicht genehmigten Beschäftigung nachzugehen, und die zweitberühmteste Straße der Gegend erhielt den Namen Große Freiheit.
Aber auch andere Gewerbe wurden von dieser großen Freiheit angezogen und gediehen in dem Gebiet. Das waren beispielsweise die Gewerbe der Prostituierten und der Pornografen.
Inzwischen waren die Dänen längst verschwunden, und Altona gehörte zu Hamburg. Aber die Gegend dazwischen blieb eine Halbwelt der Lüsternheit und der wilden Vulgarität. In den letzten Jahren hatte St. Pauli versucht, seine Unanständigkeit mit eleganten Bars, Nachtclubs, Discos und Theatern zu verdecken, aber in den schmalen Straßen, die von der Reeperbahn abzweigten, wurde immer noch mit Lust, Fleisch und Geld gehandelt.
Und hier hatte Bernd seine eigene große Freiheit gefunden. Irgendetwas, das er nicht erklären konnte, war in ihm vor kurzer Zeit abgelaufen. Eine Art
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