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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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Befreiung. Eine Loslösung von allen moralischen Zwängen, die ihn seit seiner Kindheit belastet hatten. Nun pirschte er durch die Nacht und ließ jedem dunklen Gelüst freien Lauf.
    Dies war seine Lieblingsstelle, sein Ausgangspunkt. Er stand vor der S-Bahn, und die Reeperbahn erstreckte sich in eine Richtung, während die Große Freiheit von der anderen Straßenseite her frech glitzerte und einladend zu blinzeln schien. Es war nicht nur ein Ort, sondern auch eine Zeit: der helle, köstliche Moment zwischen Vorfreude und Erfüllung. Aber heute Abend war Bernds Verlangen stärker denn je, und er hatte keine Muße, den Augenblick zu genießen. Das Kribbeln dunkler Begierde, dass in der S-Bahn begonnen hatte, war wie immer zu einer unangenehmen Bedrängnis geworden, zu einem Druck, der gelindert, oder einem Geschwür, das aufgestochen werden musste.
    Er schritt zielbewusst die Reeperbahn entlang und achtete nicht auf die Schaufenster mit bizarr proportionierten Sexartikeln oder auf die zudringliche Einladung der Anreißer an den »Videolounges«. Er bog in den Hans-Albers-Platz ein. Der Druck in seinem Unterleib und die Unruhe in seiner Brust erreichten eine neue Intensität, und er hätte schwören können, dass er den Geruch noch deutlicher wahrnahm, als wären die beiden Dinge miteinander verbunden, als vereinten sich in dem Duft Begierde und Abscheu. Er war kurz vor seinem Ziel und ließ die Barrieren hinter sich, welche die Herbertstraße, die hundert Meter lange Bordellstraße, vom übrigen Hamburg abschirmen.
    Danach überquerte Bernd die Reeperbahn und steuerte auf ein kleines Lokal in der Hein-Hoyer-Straße zu. Es war eine typische St.-Pauli-Kneipe. Schlagermusik dröhnte aus der Jukebox, und die Wände waren mit Fischernetzen, Schiffsmodellen, Prinz-Heinrich-Mützen und den unvermeidlichen Fotos von mehr oder weniger berühmten Besuchern bedeckt. Ein Bild von Jan Fedder, dem in St. Pauli geborenen Star der langjährigen Polizei-Fernsehserie »Großstadtrevier«, war aus einer Zeitschrift ausgeschnitten und – neben einem verblassten Foto des berühmtesten Sohnes von St. Pauli, Hans Albers – an die Wand geklebt worden. Bernd bahnte sich einen Weg durch die Bar, bestellte ein Astra und lehnte sich an die Theke. Die Bardame war übergewichtig, hatte unreine Haut und wenig überzeugendes blondes Haar, doch er überlegte unwillkürlich, welche Chancen er bei ihr haben würde. Wieder bemerkte er den gleichen Geruch.
    Dann wurde Bernd auf den riesigen Mann aufmerksam, der neben ihm an der Bar hochragte.

43.
    Norddeich, Ostfriesland, Sonntag, den 18. April, 11.20 Uhr
    »Ich weiß wirklich nicht, warum du diese Gegend nicht leiden kannst.« Susanne hielt ihr Gesicht in die Sonne und in die Brise, die ungehindert über die gewaltige Fläche des Wattenmeers, ungebrochen von Horizont zu Horizont, wehte. Sie spazierten am Sandstrand entlang, der in das glänzende Schwarz der Watten überging. Der feuchte Schlick drang zwischen Susannes nackten Zehen hindurch. »Ich finde sie wunderbar.«
    »Und sie hat so viel zu bieten.« Gekünstelte Begeisterung kam in Fabels Lächeln und Tonfall zum Ausdruck. »Vielleicht können wir heute Nachmittag ein nettes Teemuseum besuchen oder im ›Wellenpark Ocean Wave‹ schwimmen gehen.«
    »Das klingt beides Vertrauen erweckend«, erwiderte sie. »Es gibt keinen Grund, so sarkastisch zu sein. Ich glaube, im tiefsten Innern hasst du diesen Ort gar nicht so sehr, wie du behauptest.«
    Eine Gruppe von Wattwanderern kam vorbei, und man grüßte sich mit »Moin, moin«. Geleitet wurden die Naturfreunde von einem lokalen Führer, und sie trugen Shorts über nackten Beinen, die von dem üppigen Schlick des Watts schwarz glänzten. Susanne hakte sich bei Fabel ein, zog ihn enger an sich und legte den Kopf auf seine Schulter, während sie weitergingen.
    »Nein, ich hasse diese Gegend nicht«, beteuerte Fabel. »Es ist nur eine allgemeine Abneigung gegen den Ort, an dem wir aufgewachsen sind. Man will entkommen, besonders aus der Provinz. Ich hatte immer das Gefühl, dass es nichts Provinzielleres als Norddeich gibt.«
    Susanne lachte. »Ganz Deutschland ist provinziell, Jan. Jeder hat sein Norddeich. Jeder hat seine Heimat.«
    Er schüttelte den Kopf, und die steife Brise zerzauste sein blondes Haar. Auch Fabel war barfuss. Er trug ein altes Drillichhemd, eine verblichene blaue Windjacke und Chinos, die er sich bis über die Knöchel hochgekrempelt hatte. Seine hellblauen Augen verbargen sich

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