Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
etwas gequält wird, das vor ihrer Geburt geschehen ist… Aber wir dürfen auch die andere Seite der Medaille nicht vergessen.« Schnauber setzte sich wieder auf das Sofa. »Menschen, die im Grunde nur kleine Sünden begehen und den Rest ihres Lebens von Schuldkomplexen heimgesucht werden.«
Fabel beugte sich in seinem Sessel vor. »Wurde Laura von solch einem Schuldkomplex heimgesucht?«
»Von einer der vielen Leichen im Keller der von Klosterstadts, ja. Von einer Abtreibung. Vor Jahren. Sie war fast noch ein Kind. Niemand weiß es. Die Sache wurde durch Sicherheitsmaßnahmen vertuscht. Margarethe hat alles arrangiert und dafür gesorgt, dass es geheim blieb. Aber Laura hat es mir erzählt. Sie hat Jahre dafür gebraucht, und es brach ihr das Herz.«
»Wer war der Vater des Kindes?«
»Ein Niemand. Das war sein Verbrechen: ein Niemand zu sein. Also ließ Margarethe ihn von der Bühne verschwinden.Vor allem deshalb habe ich Laura meine ›zerbrochene Prinzessin‹ genannt. Ein medizinischer Eingriff von einer Stunde und eine lebenslange Schuld.« Schnauber nahm noch einen Schluck. Seine Augen röteten sich, aber offensichtlich nicht durch den Whisky. »Wissen Sie, was mich am traurigsten stimmt, Herr Kriminalhauptkommissar? Dass Laura, als das Ungeheuer sie umbrachte, wahrscheinlich meinte, es verdient zu haben.«
40.
Hamburg-St. Pauli, Mittwoch, den 14. April, 22 Uhr
Hermann lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er hatte Annas Beschreibung des Einsatzes gelauscht, bei dem Paul Lindemann getötet, Maria durch eine Stichwunde lebensgefährlich verletzt worden und Anna selbst nur knapp dem Tod entgangen war.
»Mein Gott, das muss schlimm gewesen sein. Ich verstehe, was du meinst. Natürlich habe ich davon gehört, aber nicht in allen Einzelheiten. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Team erschüttert worden ist. Es muss eure Arbeit beeinträchtigt haben.«
»Ich weiß, dass es Fabel sehr zugesetzt hat. Hast du seine Miene gesehen, nachdem Werner von Olsen niedergeschlagen wurde? Er lässt nicht mehr zu, dass wir in eine gefährliche Situation geraten, bevor ein MEK -Kommando eintrifft. Wahrscheinlich muss er… müssen wir unser Selbstvertrauen zurückgewinnen.«
Es kam zu einem verlegenen Schweigen, als liege Henk etwas auf der Zunge, das er jedoch nicht aussprechen wollte.
»Was ist los?«, erkundigte sich Anna. »Nur zu. Was wolltest du mich fragen?«
»Es ist eine persönliche Sache. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«
Anna setzte eine neugierige Miene auf. »Also…«
»Es ist nur, dass ich deine Halskette gesehen habe.«
Das Lächeln wich von Annas Lippen, aber ihr Gesichtsausdruck blieb entspannt. Sie zog einen Davidstern aus ihrem T-Shirt. »Das hier? Beunruhigt es dich?«
»Nein… meine Güte, nein.« Henk sah plötzlich verwirrt aus. »Ich war bloß neugierig, weil ich gehört hatte, dass du in Israel in der Armee gedient hast. Und zurückgekommen bist.«
»Ist das so erstaunlich? Ich bin Deutsche. Hamburg ist meine Heimatstadt. Hier gehöre ich hin.« Sie beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch: »Verrat’s niemandem… aber es gibt fünftausend von uns in Hamburg.«
Henk war mehr als unbehaglich zumute. »Entschuldige. Ich hätte dich nicht fragen sollen.«
»Warum nicht? Findest du es seltsam, dass ich hier leben möchte?«
»Na ja, nach unserer schrecklichen Geschichte. Ich könnte es dir nicht verübeln, wenn du nicht in Deutschland leben wolltest.«
»Wie gesagt, ich bin zuerst Deutsche und dann Jüdin.« Sie schwieg ein paar Sekunden lang. »Weißt du, dass Hamburg bis zur Machtübernahme der Nazis eine der am wenigsten antisemitischen Städte in Europa war? In ganz Europa waren die Juden in ihrer Berufsausübung eingeschränkt, und auch ihr Stimmrecht war begrenzt. Aber nicht in der Hansestadt Hamburg. Deshalb hatte Hamburg, bis die Nazis an die Macht kamen, die größte jüdische Gemeinde in Deutschland: fünf Prozent der Bevölkerung. Sogar während der ›finsteren Zeit‹ wurden meine Großeltern von Hamburger Freunden versteckt. Das erforderte eine Menge Mut. Mehr Mut, als ich selbst gehabt hätte, um ehrlich zu sein. Jedenfalls ist Hamburg heute eine Stadt, in der ich mich wohlfühlen kann. Zu Hause. Ich bin keine Wüstenblume, Henk. Ich brauche immer wieder Regen.«
»Ich weiß nicht, ob ich so nachsichtig sein könnte…«
»Es hat nichts mit Nachsicht zu tun, Henk, sondern mit Genauigkeit und Wachsamkeit. Ich habe das, was unter den Nazis geschah, nicht
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