Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
erlebt. Und du auch nicht. Niemand in unserem Alter. Aber ich werde nicht vergessen, dass es geschah.« Sie drehte ihr Glas langsam in den Händen und lachte dann leise. »Außerdem bin ich nicht allzu nachsichtig. Du hast bestimmt gehört, dass ich hin und wieder in… Auseinandersetzungen gerate, wenn ich mich so ausdrücken darf.«
»Das habe ich gehört«, lachte Henk. »Es hatte mit einem Rechtsradikalen und einem Paar gequetschter Eier zu tun, oder?«
»Wenn ich diese traurigen Wichser mit ihren Glatzen und ihren Bomberjacken sehe, werde ich, gelinde ausgedrückt, ein bisschen wütend. Wie gesagt, ich bleibe wachsam. Und mein Bruder Julius hat sich in der jüdischen Gemeinde von Hamburg sehr engagiert. Er ist Sozialanwalt und sitzt im Vorstand der Deutsch-Jüdischen Gesellschaft. Außerdem arbeitet er nebenberuflich in der Talmudschule im Grindelviertel. Julius glaubt, dass man kulturelle Brücken bauen muss. Ich glaube an Wachsamkeit.«
»Das klingt so, als hieltest du die Meinung deines Bruders für falsch.«
»Wir brauchen keine kulturellen Brücken. Meine Kultur ist die deutsche. Das Gleiche galt für meine Eltern, Großeltern und deren Eltern. Wir sind nicht anders. Wenn ich mich selbst als anders einschätze und wenn du mich als anders behandelst, dann hat Hitler gesiegt. Mein Erbe hat einen zusätzlichen Aspekt, das ist alles. Ich bin stolz auf mein Erbe und stolz darauf, Jüdin zu sein. Aber das, was mich ausmacht, liegt hier in Deutschland.«
Henk bestellte noch eine Runde, und sie ließen ihrem Gespräch freien Lauf. Anna erfuhr, dass Henk zwei Schwestern und einen Bruder hatte und in Cuxhaven geboren worden war.Aber er war noch als Kind mit seiner Familie nach Marmstorf gezogen, wo sein Vater eine Schlachterei hatte.
»Metzgerei Hermann – die beste in Süd-Hamburg«, sagte Henk. Er versuchte, einen gewissen Spott anklingen zu lassen, aber Anna lächelte, denn Henks aufrichtiger Stolz war nicht zu verkennen. »Wie die meisten Gemeinden an den Stadträndern von Hamburg wirkt Marmstorf fast wie ein Dorf. Ich weiß nicht, ob du es kennst. Im Zentrum stehen lauter alte Fachwerkhäuser.« Henk schien plötzlich traurig zu sein. »Ich habe noch immer ein Schuldgefühl, weil ich die Metzgerei meines Vaters nicht übernommen habe. Mein Bruder studiert Medizin an der Universität Hamburg. Und meine Schwestern haben auch kein Interesse an dem Geschäft. Die eine ist Buchhalterin, und die andere wohnt mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Nähe von Köln. Mein Vater betreibt die Metzgerei noch, aber er wird allmählich zu alt. Wahrscheinlich hofft er immer noch, dass ich meinen Beruf aufgebe und den Laden übernehme.«
»Davon kann wohl keine Rede sein?«
»Nein, leider nicht. Ich wollte schon als Kind Polizist werden. Es war eines der Dinge, die man ganz genau weiß.« Er machte eine Pause. »Also, was meinst du? Bestehe ich die Prüfung?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Na, darum geht es doch wohl, oder nicht? Herauszufinden, ob du mit mir zusammenarbeiten kannst.«
Anna grinste. »Wahrscheinlich bist du tauglich… aber das war nicht meine Absicht. Ich weiß, dass wir zusammenarbeiten müssen und dass ich nicht sehr entgegenkommend gewesen bin. Das bedaure ich. Aber du verstehst bestimmt, dass die Wunden noch nicht ganz geheilt sind. Nach Paul, meine ich. Egal…« Sie hob ihr Glas. »Willkommen bei der Mordkommission.«
41.
Hamburg-St. Pauli, Mittwoch, den 14. April, 22.15 Uhr
Max hatte sich daran gewöhnt, dass sein Kunde lange schwieg, während er an ihm arbeitete. Es war ihm als Zeichen des Interesses oder sogar der Bewunderung für das erschienen, was Max über sein Handwerk erzählte. Heute Abend jedoch hatte der riesige Mann überhaupt noch kein Wort gesagt, seit er durch die Tür getreten war, und nun stand er stumm in der Mitte von Max’ Studio. Er beherrschte es, füllte es aus. Und nichts war zu hören außer seiner Atmung. Langsam. Schwer. Entschlossen.
»Stimmt etwas nicht? Ist alles in Ordnung?«, fragte Max.
Das Schweigen schien sich ewig hinzuziehen, bis der Mann schließlich sprach. »Bei meinem letzten Besuch habe ich Sie gebeten, keine Unterlagen zu führen. Und niemandem von mir zu erzählen. Dafür habe ich extra bezahlt. Haben Sie sich an meine Bitte gehalten?«
»Ja, selbstverständlich!«, beteuerte Max. Er wünschte, dass sich der große Mann hinsetzte. Dadurch, dass Max in der Enge des Studios so dicht vor ihm stand, bekam er Nackenschmerzen, während er zu dem
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