Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
hinter einer Sonnenbrille. Susanne hatte Fabel noch nie in so lässiger Kleidung gesehen. Dadurch wirkte er jungenhaft. »Vielleicht haben Märchen deshalb in Deutschland länger als anderswo Bestand gehabt… weil wir die Warnung befolgt haben, uns nie zu weit von dem Bekannten und Vertrauten und Behaglichen zu entfernen… von unserer Heimat. Aber dies hier ist nicht meine Heimat, Susanne. In Wirklichkeit gehöre ich nach Hamburg.« Er lächelte und steuerte sie sanft in einem weiten Bogen in die entgegengesetzte Richtung, bis sie auf die Küste blickten, wo sich die Farbe des Sandes von schimmerndem Braun zu Weißgold änderte und wo der Horizont vom dünnen, grünen Band der Deiche eingegrenzt wurde. »Lass uns umkehren.«
Sie gingen eine Zeit lang in besinnlichem Schweigen dahin. Dann zeigte Fabel auf den Deich vor ihnen. »Als Junge habe ich dort Stunden verbracht und aufs Meer hinausgeguckt. Es ist verblüffend, wie sehr sich der Himmel und die See hier ändern… und wie schnell.«
»Das kann ich mir vorstellen. Du bist wahrscheinlich ein sehr ernster kleiner Junge gewesen.«
»Du hast wohl mit meiner Mutter gesprochen.« Fabel lachte. Aus unerklärten Gründen hatte es ihm Sorgen bereitet, Susanne hierher mitzubringen und sie seiner Mutter vorzustellen. Vor allem, da er beschlossen hatte, diesen Besuch auf das Wochenende zu legen, das er gleichzeitig zusammen mit seiner Tochter verbringen würde. Aber wie an dem Abend mit Otto und Else waren Susannes Schönheit, Unbekümmertheit und Charme unwiderstehlich gewesen, sogar als sie angemerkt hatte, seine Mutter habe immer noch die Spur eines bezaubernden britischen Akzents.
Fabel war innerlich zusammengezuckt, denn seine Mutter war überzeugt davon, ein perfektes, akzentfreies Deutsch zusprechen, und als Kinder hatten Fabel und sein Bruder Lex gelernt, ihre Mutter, die von Beruf Lehrerin war, nicht zu korrigieren, wenn sie den einen oder anderen Artikel verwechselte. Aber irgendwie hatte Susanne seiner Mutter das Gefühl vermittelt, ihr sei ein Kompliment gemacht worden.
Sie waren alle zusammen mit dem Auto aus Hamburg angereist. Susanne und Gabi hatten den größten Teil der Fahrt damit verbracht, gutmütige Scherze über Fabel zu machen. Die Reise und das Wochenende hier in Norddeich hatten Fabel gleichermaßen erfreut und verstört. Zum ersten Mal seit seiner Scheidung von Renate hatte er wieder die Empfindung gehabt, Teil einer Familie zu sein.
Am Morgen war Fabel als Erster aufgestanden und hatte Susanne weiterschlafen lassen. Gabi war schon früh nach Norden aufgebrochen, in die Stadt, in die Norddeich eingemeindet worden war. Er hatte zusammen mit seiner Mutter das Frühstück zubereitet und sie beobachtet, wie sie in der Küche die gleichen Handgriffe machte wie in seiner Kindheit. Aber nun bewegte sie sich trotz ihrer raschen und fast vollständigen Genesung langsamer, vorsichtiger. Und sie sah zerbrechlicher aus. Sie hatten sich über Fabels verstorbenen Vater, über seinen Bruder Lex und dessen Familie und dann über Susanne unterhalten. Fabels Mutter hatte ihm die Hand auf den Unterarm gelegt und ihm versichert: »Ich möchte nur, dass du wieder glücklich wirst, Junge.« Sie hatte englisch mit ihm gesprochen, denn dies war seit seiner Kindheit die Sprache der Vertraulichkeit zwischen ihm und seiner Mutter. Geradezu eine Geheimsprache.
Fabel wandte sich Susanne zu und bestätigte ihre Vermutung. »Du hast Recht, ich war vermutlich ein ernster kleiner Junge… Zu ernst. Als Junge und als Mann. Bei meinem letzten Besuch hier hat mein Bruder Lex genau das Gleiche gesagt. Ich hab früher immer auf dem Deich hinter dem Haus gesessen, aufs Meer geguckt und mir vorgestellt, wie die Langschiffe derAngeln und Sachsen zur keltischen Küste von Britannien segelten. Das hielt ich für das Entscheidende an dieser Gegend, an dieser Küste. Ich blickte auf die See hinaus und war mir der Weite Europas hinter mir und des offenen Meeres vor mir bewusst. Wahrscheinlich hatte es auch damit zu tun, dass meine Mutter Britin ist. So vieles hat hier begonnen. England wurde hier geboren. Amerika auch. Die gesamte angelsächsische Welt von Kanada bis nach Neuseeland. Hier kamen sie zusammen, die Angeln, die Jüten, die Sachsen… all die Ingwäonen.« Er hielt inne, als hätten ihn seine eigenen Worte überrascht.
»Was ist?«, fragte Susanne.
Er lachte bitter. »Dieser Fall. Die Grimm-Geschichte. Ich kann mich einfach nicht davon lösen. Oder, genauer gesagt, ich
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