Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
ausgestattet, und der Stationsarzt lobte den Sohn für sein Engagement, seiner Mutter die bestmögliche Pflege zukommen zu lassen.
Als der große Mann das Sprechzimmer des Arztes verließ, schickte er ein strahlendes Lächeln zur Schwesternstation hinüber. Er konnte es offensichtlich kaum abwarten, mit seiner Mutter nach Hause zurückzukehren. Wieder bezweifelte die Oberschwester, das irgendjemand aus ihrer undankbaren Brut auch nur ein Viertel dieser Anstrengungen auf sich nehmen würde, wenn sie alt war. Er setzte sich wieder ans Bett der altenFrau, zog seinen Stuhl dicht heran und versenkte sich in ihr enges, abgeschlossenes, giftiges Universum.
»Weißt du was, Mama? Ende dieser Woche werden wir zusammen sein. Ist das nicht herrlich? Das Einzige, worum ich mir dann Sorgen machen muss, sind gelegentliche Besuche der Gemeindeschwester, die sehen will, wie wir zurechtkommen. Aber ich lasse mir etwas einfallen. Nein, es wird überhaupt kein Problem sein, wenn uns die Gemeindeschwester besucht. Ich habe nämlich eine hübsche kleine Wohnung, die mit all dem Zeug ausgestattet ist, das wir nie benutzen werden… Denn wir werden fast nie da sein, stimmt’s, Mama? Ich weiß, dass du viel lieber in unserem alten Haus sein möchtest, nicht wahr?«
Die alte Frau lag wie immer starr und hilflos da.
»Weißt du, was ich vor ein paar Tagen gefunden habe, Mama? Deine alte Tracht von der Speeldeel. Erinnerst du dich, wie wichtig das Theater für dich war? Die deutschen Traditionen des Tanzes und Gesangs? Ich glaube, ich werde einen Gebrauch für das Kostüm finden.« Er machte eine Pause. »Möchtest du, dass ich dir etwas vorlese, Mama? Vielleicht aus den Grimm’schen Märchen? Das werde ich tun, wenn wir zu Hause sind. Unaufhörlich. Wie früher. Entsinnst du dich, dass die einzigen Bücher, die du geduldet hast, die Bibel und die Märchen der Brüder Grimm waren? Gott und Deutschland. Nichts anderes brauchten wir…« Seine Stimme wurde zu einem verschwörerischen Flüstern. »Du hast mir so wehgetan, Mama. So weh, dass ich manchmal dachte, ich würde sterben. Du hast mich so schlimm verprügelt und mir dauernd gesagt, wie wertlos ich bin. Ein Niemand. Immer wieder. Als Junge und als Erwachsener habe ich von dir gehört, dass du mich für nutzlos hieltest. Ich hätte es nicht verdient, von jemandem geliebt zu werden. Deshalb konnte ich nie eine dauerhafte Beziehung anknüpfen.«
Das Flüstern wurde zu einem Zischen. »Aber du hast dich geirrt, du alte Schlampe. Du dachtest, dass wir immer alleinwaren, wenn du mich zusammengeschlagen hast. Aber er war bei uns. Mein Märchenbruder. Unsichtbar. Du hast lange kein Wort mit mir gesprochen. Dann hörte ich ihn. Nur ich, du konntest ihn nicht hören. Er hat mich vor deinen Schlägen gerettet und mir die Worte für die Geschichten gegeben. Er hat mir eine neue Welt eröffnet. Eine wunderbare, glänzende Welt. Und dann habe ich meine wahre Berufung gefunden, mit seiner Hilfe. Vor drei Jahren. Weißt du noch? Das Mädchen. Das Mädchen, das du mit mir begraben hast – aus Angst vor dem Skandal, vor der Schande, dass dein Sohn ins Gefängnis muss. Du hast geglaubt, mich unter Kontrolle halten zu können. Aber er war stärker… ist stärker, als du dir je vorstellen kannst.«
Er lehnte sich zurück und musterte ihren Körper von Kopf bis Fuß. Nun war seine Stimme nüchtern, kalt, drohend.
»Du wirst mein Meisterstück werden, Mutter. Mein Meisterwerk. Deinetwegen – mehr als wegen all der anderen Dinge, die ich getan habe – wird man sich an mich erinnern.«
48.
Polizeipräsidium Hamburg, Dienstag, den 20. April, Mittag
Werner hatte nur noch einen kleinen Verband an der einen Seite seines Kopfes, und seine Gesichtshälfte war nicht mehr geschwollen, aber um die Wunde herum war immer noch ein Bluterguss zu sehen. Fabel hatte ihn nur unter der Bedingung zurückkehren lassen, dass er im Büro blieb und bei der Zusammenstellung und Auswertung des vom übrigen Team gesammelten Materials half. Außerdem sollte Werner nur halbtags arbeiten. Mit seinem methodischen Vorgehen würde er die absonderlichen Briefe und E-Mails sichten, die Weiss’ Theorien ausgelöst hatten. Bis jetzt hatten diese Ergüsse Hans Rödgerund Petra Maas mit Beschlag belegt. Es lag in der Natur der Sache, dass sie auf eine Menge Spinner gestoßen waren, die überprüft werden mussten. Dadurch waren sie kaum noch zu den anstehenden Verhören gekommen.
Insgeheim war Fabel genauso froh über Werners
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