Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
geblieben. Während Fabel zuschaute,wie der gespenstische Orlok eine ganze norddeutsche Stadt mit der Pest infizierte, ging ihm der Text des Rammstein-Songs durch den Sinn, den er in Olsens Wohnung gehörte hatte. Grimm, Murnau, Rammstein – unterschiedliche Generationen, doch die gleichen Legenden. Weiss hatte Recht. Alles wiederholt sich. Wir brauchen immer noch Märchen, um uns Angst einjagen zu lassen. – Eingebildete Schrecken und reale Gräuel. Daran hat sich nichts geändert.
Fabel war gegen zwei Uhr ins Bett gegangen. Ihm war klar, dass er in dieser unruhigen Nacht unablässig geträumt hatte. Wie er von Susanne wusste, waren seine ständigen Träume ein Zeichen von Stress, die krampfhaften Bemühungen seines Geistes, die Probleme in seinem Privat- und Berufsleben zu lösen. Ganz besonders ärgerte es Fabel, wenn er sich an seine Träume nicht erinnern konnte. Und als er um halb sechs durch Anna Wolffs Anruf geweckt worden war, hatten sich die Träume der Nacht verflüchtigt. »Guten Morgen, Chef. An deiner Stelle würde ich aufs Frühstück verzichten. Der Mistkerl hat schon wieder zugeschlagen.« Annas direkte Art grenzte manchmal an Respektlosigkeit. »Übrigens glaube ich, dass wir Bernd Ungerers fehlende Augen gefunden haben. Oh… und ich habe noch ein zusätzliches Paar, für alle Fälle…«
Mehr als die Hälfte von Hamburg-Ohlsdorf wird von einem Friedhof eingenommen. Es ist die größte Grünfläche der Stadt: über vierhundert Hektar voller Bäume, liebevoll gepflegter Beete und prächtiger Skulpturen. Viele Bewohner von Hamburg und nicht weniger auswärtige Besucher kommen hierher, um das Grün und die Ruhe zu genießen. Es ist einer der größten Friedhöfe der Welt. Seine eleganten Skulpturen schmücken die Mausoleen und Gräber der Hamburger Toten. Der riesige Friedhof enthält eine halbe Million Gräber.
Der heller werdende Himmel war so gut wie unbewölkt und bereits von den roten Streifen des nahenden Morgens überzogen, als Fabel am Leichenfundort eintraf. Ein Ohlsdorfer Schutzpolizist geleitete ihn an der Cordesallee entlang – der Hauptstraße, die durch den weitläufigen Friedhof führt – und am Wasserturm vorbei zu einer großen Fläche, die einen separaten Friedhof zu bilden schien. Sie war von breitblättrigen Bäumen umsäumt, die bereits ihr gesamtes Frühjahrslaub besaßen. Figuren aus weißem Marmor, Bronze und rotem Granit hielten schweigend Wache an den Gräbern, während Fabel auf die Stelle zuging, an der man die Leiche entdeckt hatte. Anna war bereits da, genau wie Holger Brauner und sein Team, das den Fundort gesichert hatte. Alle tauschten grimmige, für eine frühmorgendliche Mordszene typische Begrüßungen aus, als Fabel sich näherte. Eine Frau lag wie schlafend auf dem Rücken. Ihre Hände waren über der Brust gefaltet. An ihrem Kopf schaute die mächtige Figur eines weiblichen Engels, eine Hand ausgestreckt, zu Boden, als wolle sie der Toten helfen. Fabel blickte sich um. Sämtliche Skulpturen waren weiblich, genau wie die Namen auf den Grabsteinen. »Das hier ist der Garten der Frauen«, erklärte Anna. Fabel wusste, dass der Mörder ihnen sogar durch die Wahl des Fundortes etwas mitteilen wollte. Er blickte zurück zu der toten Frau. Ihre Pose war fast identisch mit derjenigen, die Laura von Klosterstadts Leiche eingenommen hatte. Aber diese Frau hatte dunklere Haare, und ihr fehlte Lauras Schönheit. Auch war sie nicht nackt. »Was für eine Kleidung ist das?«, fragte Anna.
»Ein traditionelles norddeutsches Frauenkostüm. Wie es in einem plattdeutschen Theater getragen wird«, sagte Fabel. »Zum Beispiel in der Finkwarder Speeldeel.«
Anna sah nicht klüger aus als zuvor. »Und da sind die Augen.« Sie zeigte auf die Brust der Frau, auf der vier blutverschmierte Papiertaschentücher lagen. »Wir scheinen ein Überangebot zu haben – zwei Augen zu viel.«
Fabel betrachtete die Leiche eingehend von Kopf bis Fuß. Sie trug eine hellrote Trachtenhaube, die mit weißen Spitzenabgesetzt und unter ihrem Kinn verschnürt war. Über ihren Schultern lag ein bunter Schal, und ihre breitärmelige weiße Bluse wurde von einem schwarzen Mieder mit goldenen und roten Stickereien bedeckt. Die klebrigen Augäpfel hatten Flecke auf dem Mieder hinterlassen. Ihr roter, knöchellanger Rock wurde fast verhüllt von einer ebenfalls bestickten weißen Schürze. Außerdem hatte sie dicke weiße Strümpfe und schwarze Schuhe mit niedrigen Absätzen an. Neben sie hatte jemand
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