Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Boden, aber nicht mehr auf die ermordete Frau in dem norddeutschen Trachtenkostüm. Stattdessen wies der ausgestreckte Finger des Engels auf eine weiße Marmorplatte mit einem Namen:
Emilia Fendrich. 1930–2003.
54.
Hamburger Hafen, Freitag, den 23. April, 10.15 Uhr
Maria, Werner, Henk Hermann und die beiden von der Abteilung Sexualdelikte abgeordneten Beamten tauchten zehn Minuten, nachdem Fabel und Anna eingetroffen waren, an Dirk Stellamanns Schnellimbiss am Hafen auf. Der Himmel hatte sich getrübt, und die Luft wirkte dicht und schwer, als könnesie nur durch einen heftigen Sturm vertrieben werden. Um die makellos saubere Imbissbude und ihre durch Sonnenschirme geschützten Tische ragte ein Wald von Werftkränen in den stahlgrauen Himmel. Dirk, ein ehemaliger Hamburger Schutzpolizist, war wie Fabel Friese, und die beiden plauderten kurz in ihrem Heimatdialekt Frisk, bevor der Hauptkommissar Kaffee für sein Team bestellte.
Die Polizisten gruppierten sich um zwei der brusthohen Tische und fragten sich mit Blick auf den Himmel, ob sie genug Zeit haben würden, ihren Kaffee vor dem Beginn des Sturmes auszutrinken. Fabel ergriff das Wort:
»Wir haben es mit einem neuen Opfer zu tun, das auf die gleiche Art ermordet wurde. Aber diesmal liegt die Ermordete auf dem Grab der Mutter eines unserer Verdächtigen – wenn auch keines übermäßig Verdächtigen. Ich würde gern eure Meinung dazu hören.«
»Wenigstens brauche ich nun nicht auf dem Standesamt nachzufragen, ob Fendrichs Mutter wirklich tot ist«, sagte Anna. »Die Friedhofsbehörden haben bestätigt, dass Emilia Fendrich tatsächlich vor sechs Monaten beerdigt wurde. Ihre Adresse stimmte mit der ihres Sohnes in Rahlstedt überein.«
Henk nickte. Rahlstedt war nicht weit von Ohlsdorf entfernt. »Was sollen wir tun?«, fragte er. »Verhören wir Fendrich wegen des letzten Mordes?«
»Auf welcher Grundlage?« Anna verzog das Gesicht, als sie an dem zu heißen Kaffee nippte. »Weil seine Mutter wirklich tot ist und er uns nicht belogen hat?«
Henk ignorierte Annas Sarkasmus. »Gut, es könnte ein Zufall sein. Aber rechnet mal nach: Fünfhunderttausend Gräber, auf denen man die Leiche zurücklassen könnte, aber sie landet ausgerechnet auf einem, in dem die Mutter eines unserer drei Verdächtigen liegt. Und wir wissen, dass der Kerl uns durch jeden Bestandteil seiner Szenen etwas mitteilen will.«
»Wir müssen wenigstens mit Fendrich reden«, meinte Maria. »Sobald wir die genaue Todeszeit haben, sollten wir uns nach seinem Alibi erkundigen.«
»Holger Brauner hat unserem hoch geachteten Gerichtsmediziner, Herrn Doktor Möller, eine Schätzung abgerungen, als er am Tatort ankam«, sagte Fabel. »Irgendwann zwischen zwanzig Uhr und Mitternacht gestern Abend. Ihr habt Recht, wir müssen wissen, wo Fendrich in diesem Zeitraum war. Aber wir sollten äußerst diplomatisch vorgehen.«
»Ich kümmere mich darum«, erbot sich Anna. Alle starrten sie an. »Was ist los? Ich kann auch diplomatisch sein.«
»Einverstanden«, sagte Fabel und ließ Bedenken in seiner Stimme mitschwingen. »Aber rege ihn nicht auf.«
»Wieso nicht?«, wollte Henk wissen. »Fendrich steht nun doch wohl wieder ganz oben auf unserer Liste. Schließlich hat die Leiche auf dem Grab seiner Mutter gelegen…«
»Er ist nicht unbedingt unser Hauptverdächtiger«, meinte Anna. »Paula Ehlers’ Verschwinden wurde weithin bekannt gemacht. Es ist kein Geheimnis, dass die Polizei Fendrich vernommen hat. Wir müssen daran denken, dass der Mörder höchstwahrscheinlich auch Paula entführt und ermordet hat. Also dürfte er die Ermittlungen verfolgt haben. Jedenfalls kann ich euch jetzt schon versichern, dass Fendrich kein Alibi hat.«
»Wieso?«, fragte Fabel.
»Weil er nicht weiß, dass er eines benötigt. Und weil er ein Einzelgänger ist.«
Fabel nahm einen Schluck von seinem Kaffee und schaute zum Himmel hinauf. Die stahlgraue Decke war mit dunkleren Wolken durchsetzt. Wie immer vor einem Sturm spürte er den Druck in der Luft, denn er hatte dumpfe Schmerzen in den Nebenhöhlen. »Du glaubst wirklich nicht, dass Fendrich schuldig ist, Anna?«
»Ich glaube nicht, dass seine Beziehung zu Paula Ehlers völlig harmlos war. Aber er ist nicht unser Mann.«
Fabel massierte sich die Nebenhöhlen mit Daumen undZeigefinger. »Du hast wahrscheinlich Recht. Vermutlich ist das ein Ablenkungsmanöver. Alles, was dieser Knabe tut, hängt miteinander zusammen. Jeder Mord verbindet ein Märchen mit
Weitere Kostenlose Bücher