Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
letzten Wolkenreste hatten sich verflüchtigt, und der Himmel zeigte sich in makellosem, hellem Blau. Fabel verwünschte sein warmes Jaeger-Jackett. Sich angemessen für das wechselhafte Wetter anzuziehen war ein Problem, das er mit der übrigen Hamburger Bevölkerung teilte. Er konnte sein Jackett nicht ablegen, weil er seine Dienstpistole am Gürtel trug. Also entschied er sich für eine Bank im Schatten einer Baumreihe, die das Kopfsteinpflaster unterbrach. Die Peterstraße war von fünf- und sechsstöckigen, barock wirkenden Stadthäusern flankiert, deren Fassaden zahlreiche Fenster und Giebel niederländischen Stils aufwiesen.
Kurz nach 11.30 Uhr kam Weiss’ mächtige Gestalt aus dem imposanten Eingang von Nummer 36 an der Ecke Peterstraße/Hütten hervor. Fabel kannte das Gebäude, denn er hatte es als Student häufig aufgesucht. Er stand auf, und die beiden Männer schüttelten einander die Hand. Weiss deutete mit einer Geste an, dass sie beide auf der Bank Platz nehmen sollten.
»Geht es in Ihrem neuen Buch um eine ähnlich traditionelle Thematik?«, fragte Fabel. Weiss hob seine schweren Augenbrauen, und Fabel zeigte auf die Nummer 36. »Die Niederdeutsche Bibliothek… Ich nehme an, Sie befassen sich gerade mit plattdeutscher Literatur. Früher habe ich dort auch viel Zeit verbracht.«
»Wie kann ich Ihnen helfen, Herr Kriminalhauptkommissar?« Weiss’ Tonfall enthielt immer noch eine Spur von Gereiztheit.
Es nagte an Fabel, aber er sah darüber hinweg. »In diesem Fall treffen mehr Umstände zusammen, als mir lieb ist, HerrWeiss. Vermutlich hat der Mörder Ihr Buch gelesen und wird dadurch beeinflusst.«
»Oder der Mörder und ich benutzen einfach das gleiche Quellenmaterial, wenn auch auf radikal unterschiedliche Art. Damit meine ich die ursprünglichen Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen .«
»Das ist unzweifelhaft richtig, aber ich habe auch das Gefühl, dass…« Fabel rang nach den angemessenen Worten. »…hier noch ein zusätzliches Element mitspielt. Eine Form der Interpretation sozusagen.«
»Womit Sie meinen, dass er sich nicht strikt an das Buch hält?«
»Ja.« Fabel hielt inne. Eine alte Frau ging mit einem Hund an einer Leine vorbei. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass der Schnitzer Ihr Bruder war? Dass er die Wolfsskulptur in Ihrem Arbeitszimmer geschaffen hat?«
»Weil ich nicht fand, dass es Sie etwas angeht. Oder dass es irgendetwas mit Ihren Ermittlungen zu tun hat. Deshalb drängt sich die Frage auf, weshalb Sie es für Ihre Angelegenheit halten. Gehöre ich zu den Verdächtigen, Herr Fabel? Möchten Sie, dass ich Ihnen vollständig Rechenschaft über meine Aufenthaltsorte gebe?« Weiss’ Augen verengten sich, und die schweren Brauen überschatteten die ersten Funken eines dunklen Feuers. »Oh, ich verstehe Ihre Logik. Vielleicht liegt Wahnsinn in der Familie.« Er neigte seinen massiven Kopf zu Fabel vor. »Vielleicht bin ich auch mondsüchtig.«
Fabel widerstand der Versuchung zurückzuweichen und hielt Weiss’ Blick stand. »Na schön, sagen wir, es gibt Verdachtsmomente. Ihr Buch kommt heraus, und plötzlich ereignet sich eine Serie von Morden, die sich genau an den Themen Ihres Romans orientieren. Außerdem erhöhen die Morde das öffentliche Interesse an Ihrem Buch – und die Verkaufszahlen. Das legitimiert meine Fragen an Sie.«
»Aha… Ich stehe also nicht nur im Licht der Öffentlichkeit, sondern auch im Scheinwerferlicht der Polizei.« Weiss verzog die Lippen zu einem kalten Lächeln. »Wenn Sie mir eine Liste der Daten und Uhrzeiten geben, für die ich ein Alibi brauche, werde ich Ihnen die Informationen liefern.«
»Das habe ich schon vorbereitet.« Fabel zog ein gefaltetes Stück Papier aus seiner Innentasche. »Hier stehen sämtliche Zeiten und Daten. Und es wäre nützlich, wenn Sie zusätzlich die Personen benennen könnten, die in der Lage sind, Ihre Angaben zu bestätigen.«
Weiss nahm das Blatt und steckte es in seine Jackentasche, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. »Ich kümmere mich darum. Ist das alles?«
Fabel beobachtete die Frau und ihren Hund, die nach Hütten einbogen. »Hören Sie, Herr Weiss, Sie sind ein sehr intelligenter Mann. Die Übereinstimmungen zwischen Ihrem Buch und den Morden sind nicht der Hauptgrund für mein Kommen. Sie sind wahrscheinlich mein, wenn ich mich so ausdrücken darf, einziger Experte für das, was den Mörder antreibt. Ich muss ihn verstehen. Ich muss verstehen, was er in diesen Märchen
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