Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
bestanden aus abstrakten Mustern.
»Werner …« Fabel rief seinen Kollegen zu sich, ohne die Augen von dem Bild abzuwenden. »Ich glaube, wir haben ihn gefunden. Kein Kunde, sondern der Tätowierer selbst.«
Es gab einen Ausgang aus dem Studio. Die Tür war entfernt worden, wohl um die knappe Fläche optimal zu nutzen, und nun durch einen Vorhang aus bunten Plastikstreifen ersetzt. Werner durchsuchte das Studio, während sich Fabel daranmachte, die übrigen Räume zu inspizieren. Er schob die Plastikstreifen auseinander und trat in einen kleinen, quadratischen Flur. Zur Rechten lag ein schrankgroßes Zimmer, das eine Toilette und ein Waschbecken enthielt. Direkt vor Fabel befand sich eine steile Treppe, die zweimal scharf nach rechts abbog, bis sie das Obergeschoss erreichte. Hier gab es zwei kleine Zimmer. Eines diente als Küche und Wohnzimmer und war mit einem Sofa und einem Ledersessel möbliert. Der Sessel glich denen im Studio, war jedoch in einem erheblich besseren Zustand. Fabels Blick fiel auf ein uraltes Fernsehgerät und eine Stereoanlage. Der zweite Raum war das Schlafzimmer. Es war ebenfalls so winzig, dass es nur Platz für das Bett, ein Bücherregal an einer Wand und eine Lampe auf dem Fußboden neben dem Bett bot.
Die kümmerliche Wohnung deprimierte Fabel. Sie war schäbig, aber Bartmann hatte sie sauber gehalten. Es waren die zweckmäßigen, seelenlosen Räume eines Mannes, der allein lebt. Fabel dachte an seine eigene Wohnung mit den eleganten Möbeln, den Buchenfußböden und dem überwältigenden Ausblick auf die Alster. Es handelte sich um eine ganz andere Kategorie, aber irgendetwas an dieser Unterkunft, in der sich Bartmanns Leben abgespielt hatte, war bedrückend ähnlich. Während Jan Fabel in der toten Wohnung eines toten Mannes stand, traf er eine Entscheidung für sein eigenes Leben.
Fabel schaute unter das Bett und entdeckte eine große, flache Zeichenmappe. Er zog sie hervor und legte sie aufs Bett, bevor er sie öffnete. Sie enthielt Bleistift- und Tintenzeichnungen, Kohleskizzen und ein paar Gemälde. Die Studien waren nicht aufregend und hatten offensichtlich den Zweck, die technischen Fähigkeiten, nicht die Fantasie des Künstlers auf die Probe zu stellen. Fabel sah, dass der Mann über ein hohes handwerkliches Können verfügte. Sämtliche Studien trugen die Initialen »M. B.«. Er ließ die Mappe auf dem Bett liegen und trat an den Bücherschrank. Der enthielt Bartmanns Bibliothek über alles, was mit dem Tätowieren zu tun hatte. Fabel fand wissenschaftliche Werke über die Geschichte der Körperkunst, Bücher über halb pornografische »Fantasiekunst« und Anleitungen für die Handhabung von Tätowiergeräten. Doch drei Bände passten nicht zu den übrigen. Einer ließ Fabel eine Gänsehaut über den Kopf laufen: Sämtliche Werke der Gebrüder Grimm. Daneben standen zwei Bücher über die Schriftarten Fraktur, Kupferstich und Sütterlin. Altdeutsche Schriften und ein Exemplar der Grimm’schen Märchen – in der Wohnung eines Tätowierers hätte man etwas anderes erwartet. Ein weiterer Mord mit einer Beziehung zu den Grimms. Und eine weitere Leiche, die die Polizei jedoch nicht hatte finden sollen.
Fabel nahm die drei Bücher aus dem Regal und legte sie zur Seite, damit sie später in eine Spurensicherungstüte gesteckt werden konnten. Er blieb einen Moment lang in dem schäbigen Schlafzimmer stehen und betrachtete die Bücher. Ihre genaue Bedeutung musste noch geklärt werden, aber er wusste, dass er gerade einen großen Schritt auf den Mörder zu gemacht hatte. Er ließ sein Handy aufschnappen und wählte eine eingespeicherte Nummer.
»Anna… hier ist Fabel. Ich habe eine seltsame Bitte. Ruf Fendrich an und versuch so geschickt wie möglich herauszufinden, ob er irgendwelche Tätowierungen hat.«
56.
Hamburg-Neustadt, Dienstag, den 27. April, 14.10 Uhr
Weiss war höflich und hilfsbereit gewesen, als Fabel ihn zu Hause angerufen hatte, aber in seinem Tonfall hatte er eine winzige Spur überstrapazierter Geduld mitschwingen lassen. Am folgenden Tag sei er beschäftigt, da er Bücher signierenund Recherchen für ein neues Buch anstellen müsse. Er werde in Neustadt sein, teilte er Fabel mit und schlug ihm vor, sich gegen 11.30 Uhr dort mit ihm zu treffen. »Sofern es Ihnen nichts ausmacht, mich a fresco zu befragen.«
Fabel traf wie gewohnt zehn Minuten vorher ein und setzte sich auf eine Bank in der Peterstraße, die zur Fußgängerzone gemacht worden war. Die
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