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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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sieht.«
    Weiss lehnte sich auf der Bank zurück und spreizte seine großen Hände auf den Knien. Er betrachtete die Kopfsteine einen Augenblick lang, als denke er über Fabels Worte nach. »Meinetwegen. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll. Ich kenne seine Motive nicht. Es ist seine Realität, nicht meine. Meiner Ansicht nach hat das Ganze nichts mit den Grimm’schen Märchen zu tun. Es geht ihm um seine eigene Erfindung. Schließlich hat auch mein Buch, Die Märchenstraße , in Wirklichkeit nichts mit Jacob Grimm oder den Grimm’schen Märchen zu tun. Sie dienen nur als Hintergrund für das, was ich mir ausgedacht habe.« Weiss deutete auf die barock wirkenden Bürgerhäuser vor ihnen. »Schauen Sie dorthin. Wir sind hier von Geschichte umgeben. In der Hochsaison drängen sich Touristen, hauptsächlich Amerikaner, auf derPeterstraße – genau wie in Hütten und auf der Neanderstraße um die Ecke. Die Leute wollen den historischen Glanz der Gebäude genießen. Aber Sie wissen bestimmt sehr gut, dass alles eine Illusion ist. Die prächtigen barocken Stadthäuser wurden in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren errichtet. Früher gab es hier keine derartigen Gebäude. Sie sind nicht einmal Rekonstruktionen, sondern schlicht Fälschungen. Gewiss, sie wurden historischen Plänen nachempfunden, aber sie gehören nicht hierher, an diesen Ort, in diese Zeit. In überhaupt keine Zeit.«
    »Worauf wollen Sie hinaus, Herr Weiss?«
    »Nur darauf, dass Sie und ich Bescheid wissen, wie jeder, der die Hamburger Geschichte kennt. Aber die meisten Menschen haben keine Ahnung. Sie kommen hierher, setzen sich auf diese Bänke, genau wie wir jetzt, und saugen etwas in sich auf, das sie für deutsche Geschichte halten und das ein entsprechendes Gefühl in ihnen erzeugt. Das hier ist ihre Erfahrung und ihre Realität, weil sie daran glauben. Sie sehen keinen Betrug, weil er nicht zu erkennen ist.«
    Weiss rieb seine Knie frustriert mit den Handballen, als falle es ihm schwer, seine Gedanken zu formulieren. »Sie haben nach meinem Bruder gefragt. Ich habe nicht erwähnt, dass er die Figur in meinem Arbeitszimmer geschaffen hat, weil alles noch zu real für mich ist. Zu schmerzhaft. Ich war froh, als Daniel sich umgebracht hatte, aber es fällt mir immer noch schwer, damit fertig zu werden. Er hatte sich am Ende so sehr gequält, dass ich erleichtert war, als er Schluss machte. Ich habe Ihnen bereits erzählt, dass sich Daniel für einen Lykanthropen, einen Werwolf, hielt. Tatsache ist, dass er wirklich daran glaubte. Für ihn war es eine unbestreitbare, grässliche Realität. Er war mein älterer Bruder, und ich habe ihn innig geliebt. Er hat alles verkörpert, was ich werden wollte. Dann, als ich ungefähr zwölf und er siebzehn Jahre alt war, begannen die psychotischen Schübe. Ich habe sie miterlebt, Herr Hauptkommissar. Ich war Zeuge, wie mein Bruder von einer unsichtbaren Kraft zerrissen wurde. Es war nicht bloß eine psychische Qual, die ihn brüllen und heulen ließ, sondern zugleich ein intensiver physischer Schmerz. Wir sahen einen Teenager, der einen Anfall hatte, aber Daniel empfand wirklich, wie sich jede Sehne verdrehte und streckte, wie sich seine Knochen bogen, wie sein Körper eine unglaubliche Folter durchmachte, während er seine Gestalt veränderte. Ich will darauf hinaus, dass er all das spürte. Für ihn war es real, wenn auch nicht für uns.« Weiss wandte den intensiven Blick ab, mit dem er Fabel bisher angesehen hatte. »Dadurch erhielt ich die Idee für meine ›Wahlwelten‹-Romane. Im ersten schrieb ich über Daniel. Ich machte ihn zu einem Wolf, nicht zu einem Werwolf, sondern zu einem Wolfskönig, der über sämtliche Rudel der Welt herrscht. In meiner Geschichte war er glücklich und frei – frei von Schmerz. Und das wurde meine Realität für ihn.« Fabel bemerkte die Trauer in den dunklen Augen. »Deshalb irren Sie sich, wenn Sie meinen, dass sich der Mörder nicht an das Buch, an die authentischen Märchen, hält. Das tut er, denn es ist sein Buch. Es ist seine Realität.«
    »Aber er wird durch die Grimm’schen Märchen und vielleicht sogar durch Ihr Buch inspiriert?«
    »Offensichtlich. Nur können wir nicht vorhersagen, wie er sie interpretiert… Erinnern Sie sich noch an meine Illustrationssammlung?« Fabel nickte. »Gut. Dann machen Sie sich bewusst, wie viele äußerst individuelle, künstlerische Interpretationen der Grimm’schen Märchen die Bilder wiedergeben. Und

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