Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
große Zeitspanne. Wie du weißt, ist die erste Gewalteskalation für einen Straftäter der größte Schritt: der Sprung von der Fantasie zur Tat.«
»Zum ersten Mord.«
»Genau. Danach wird es leichter. Und die Straftaten häufen sich sehr rasch – allerdings nicht immer. Manchmal wird der erste Mord in der Kindheit oder in der frühen Jugend begangen, und es kann Jahrzehnte bis zum zweiten dauern. Drei Jahre sind ein seltsamer Abstand.« Susanne runzelte die Stirn. »Das würde mich vermuten lassen, dass wir es mit verschiedenen Tätern zu tun haben. Aber die starke Ähnlichkeit der beiden Mädchen und der Umstand, dass der Mörder dem zweiten die Identität des ersten gegeben hat, machen mich nachdenklich.«
»Gut«, meinte Fabel, »nehmen wir einmal an, dass es derselbe Mörder ist. Was verrät uns die Zeitspanne von drei Jahren?«
»Wenn es derselbe Täter ist, dann dürfte es, die bewusste Grausamkeit bedacht, mit der die Identitäten der beiden Mädchen verknüpft wurden, höchst unwahrscheinlich sein, dass die Verzögerung geplant war. Ich glaube nicht, dass die Pause das Ergebnis von Schuldgefühlen oder innerer Qual oder Abscheu infolge der Tat ist. Eher könnte die Ursache in äußeren Zwängen liegen – in irgendeiner Grenze oder einem Hindernis, das die Eskalation hinausgezögert hat.«
»Zum Beispiel?«
»Vielleicht war es ein physisches, geografisches oder persönliches Hemmnis. Mit ›physisch‹ meine ich, dass der Mörder vielleicht durch einen Aufenthalt im Gefängnis oder in einem Krankenhaus in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. Das geografische Hindernis könnte darin bestehen, dass er drei Jahre in einer anderen Gegend gearbeitet und gewohnt hat und erst vor kurzem zurückgekehrt ist. In einem solchen Fall würde ich erwarten, dass der Täter, wenn sich ihm die Gelegenheit bot, anderswo ähnliche Verbrechen begangen hat. Und mit persönlichen Hemmnissen meinte ich, dass es in seinem privaten Umfeld eine Person gegeben haben mag, die fähig war, ihn von einer Wiederholung seiner Mordtaten abzuhalten. Irgendeine dominierende Gestalt, die den Täter gebremst hat – möglicherweise ohne etwas über den ersten Mord zu wissen.«
»Und diese Person ist nun nicht mehr vorhanden?«
»Vielleicht. Es könnte sich um einen tyrannischen Elternteil oder um einen Lebensgefährten gehandelt haben, der gestorben ist… oder um eine gescheiterte Ehe. Oder der Tötungsdrang des Mörders hat sich einfach so verstärkt, dass er keiner äußeren Kontrolle mehr gehorcht. Wenn das zutrifft, dann möge Gott der Person helfen, die ihn zurückgehalten hat.« Susanne setzte die Brille ab. Die Lider ihrer dunklen Augen waren schwer, und ihre Stimme klang schleppend vor Erschöpfung. Dabei trat ihr süddeutscher Akzent deutlicher hervor. »Natürlich gibt es noch eine andere Erklärung…«
Fabel kam ihr zuvor. »Und diese Erklärung lautet, dass der Mörder in den letzten drei Jahren nicht untätig gewesen ist. Wir haben seine Opfer bloß noch nicht gefunden oder keine Beziehung zwischen ihnen hergestellt.«
6.
Polizeipräsidium Hamburg, Donnerstag, den 18. März, 8.30 Uhr
Fabel war früh aufgewacht und starrte an die Decke, während das schwache Morgenlicht langsam und widerwillig über sie hinwegglitt. Susanne hatte schon geschlafen, als er aus dem Präsidium zurückgekehrt war. Ihre Beziehung hatte jenes Zwischenstadium erreicht, in dem man einander die Hausschlüssel gibt. Deshalb hatte Fabel ihre Wohnung in Övelgönne betreten und leise in ihr Bett schlüpfen können. Der Austausch von Schlüsseln war ein Symbol für die Exklusivität ihres Verhältnisses und für die Toleranz gewesen, die es ihnen gestattete, den anderen in das persönlichste Territorium vordringen zu lassen. Aber sie hatten noch nicht die Entscheidung getroffen zusammenzuziehen und nicht einmal über diese Möglichkeit gesprochen. Beide waren auf ihre Privatsphäre bedacht und hatten aus verschiedenen Gründen unsichtbare Burggräben um sich und ihr Leben gezogen. Keiner von beiden war bisher bereit, die Zugbrücke ganz hinunterzulassen.
Als Susanne erwachte, lächelte sie ihn schläfrig und einladend an, bevor sie sich liebten. Für Fabel und Susanne gab es morgens einen goldenen Zeitraum, in dem sie nicht über ihre Arbeit sprachen, sondern plauderten und scherzten und gemeinsam frühstückten, als hätten sie beide einen harmlosen, einfachen Beruf, der sich nicht auf ihr Privatleben erstreckte. Sie hatten keine Regel
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