Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
schlafen.«
Fabel lächelte freudlos und bedeutete Anna, Platz zu nehmen. »Du warst nicht die Einzige.« Er überlegte. »Möchtest du etwas anderes übernehmen?«
»Nein«, erwiderte Anna entschieden. Sie setzte sich auf den Stuhl Fabel gegenüber. »Nein… Ich möchte weiter an diesem Fall arbeiten. Ich würde gern herausfinden, wer dieses Mädchen ist, und ich will dabei helfen, die wirkliche Paula Ehlers zu finden. Es war nur ziemlich schwer, auf eine Familie zu treffen, die zum zweiten Mal in Stücke gerissen wird. Die andere Sache war – ich weiß, das klingt verrückt –, dass ich Paulas Gegenwart, oder besser gesagt, das Fehlen ihrer Gegenwart, in dem Haus geradezu spüren konnte.«
Fabel hörte ihr schweigend zu. Anna hatte einen Gedanken zu entwickeln begonnen, und er wollte, dass sie ihn bis ans Ende ausführte.
»Ich erinnere mich an ein Mädchen in meiner Schule. Sie hieß Helga Kirsch und war ungefähr ein Jahr jünger als ich. Ein unscheinbares kleines Ding. Sie hatte ein Gesicht, das man nicht bemerkte, aber wiedererkannte, wenn man es in einer anderen Umgebung sah. Zum Beispiel am Wochenende in derStadt.« Fabel nickte. »Also gut, eines Tages mussten wir uns alle in der Schule versammeln. Man teilte uns mit, dass Helga vermisst wurde. Sie war mit dem Rad fortgefahren und einfach verschwunden. Danach bemerkte ich plötzlich, dass sie nicht mehr da war. Ich hatte nie ein Wort mit ihr gewechselt, aber irgendwie hatte sie einen gewissen Platz in meiner Welt eingenommen. Es dauerte eine Woche, bis man ihr Fahrrad und dann ihre Leiche fand.«
»Ich entsinne mich«, sagte Fabel. Er war damals ein junger Kommissar gewesen, und man hatte ihn nur am Rande zu der Ermittlung herangezogen, aber an den Namen konnte er sich noch erinnern. Helga Kirsch, dreizehn Jahre alt, in einem kleinen Feld aus dichtem Gras neben dem Fahrradweg vergewaltigt und erwürgt. Ihr Mörder war nach einem Jahr aufgespürt worden, aber erst nachdem er ein weiteres junges Leben ausgelöscht hatte.
»Von dem Moment ihres Verschwindens bis zu der Bekanntmachung, dass man ihre Leiche gefunden hatte, herrschte ein seltsames Gefühl in der Schule. Als hätte jemand einen kleinen Teil des Gebäudes geraubt, den wir nicht identifizieren konnten, von dessen Fehlen wir jedoch wussten. Nachdem sie gefunden worden war, breitete sich eine Art Trauer aus. Ein Schuldbewusstsein. Ich lag nachts im Bett und versuchte, mich daran zu erinnern, ob ich Helga je angelächelt oder überhaupt irgendetwas mit ihr zu tun gehabt hatte. Natürlich war das nicht der Fall. Aber die Trauer und das Schuldbewusstsein waren eine Erleichterung nach dem Gefühl des Fehlens.« Anna drehte sich um und schaute durch Fabels Fenster auf den wolkenverhangenen Himmel. »Ich weiß noch, dass ich mit meiner Großmutter darüber gesprochen habe. Sie erzählte mir, wie es ihr als Mädchen im Dritten Reich erging, bevor sie und ihre Eltern sich versteckten. Damals machten sie etwas Ähnliches durch: Menschen, die sie kannten, wurden in der Nacht von den Nazis abgeholt… manchmal eine ganze Familie. – Danach klaffte eine unerklärliche Lücke in der Welt. Und man hatte nicht einmal eine Todesnachricht, um die Lücke zu füllen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Fabel, obwohl er es nicht konnte. Annas jüdische Herkunft hatte bei ihrer Auswahl für sein Team keine Rolle gespielt. Fabel hatte dieses Merkmal schlicht nicht wahrgenommen. Aber zuweilen saß er ihr so wie jetzt an einem Tisch gegenüber und machte sich bewusst, dass er ein deutscher Polizist und sie eine deutsche Jüdin war, und dann schien sich das Gewicht einer unerträglichen Geschichte auf ihn zu legen.
Anna wandte sich vom Fenster ab. »Es tut mir Leid. Ich wollte eigentlich nicht auf etwas Bestimmtes hinaus. Die Sache geht mir einfach nahe.« Sie stand auf und richtete ihren beunruhigend freimütigen Blick auf Fabel. »Ich werde sie identifizieren.«
Nachdem Anna hinausgegangen war, holte Fabel einen großen Skizzenblock aus seiner Schreibtischschublade hervor, legte ihn auf den Tisch und schlug ihn auf. Einen Moment lang betrachtete er die breite Fläche weißen Papiers. Leer. Sauber. Ein weiteres Symbol für den Beginn eines neuen Falles. Fabel benutzte solche Skizzenblöcke seit mehr als einem Jahrzehnt bei seinen Mordermittlungen. Auf diesen dicken Seiten, die für eine schöpferischere Aufgabe gedacht waren, fasste er den Inhalt von Schautafeln zusammen, notierte sich die Kürzel der Namen
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