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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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von Menschen, Orten und Geschehnissen und verband sie durch Linien. Das waren seine Skizzen: seine Umrisse einer Mordermittlung, die er zuerst mit Licht und Schatten und dann mit Details versah.
    Zunächst brachte er die Örtlichkeiten zu Papier: den Strand in Blankenese und das Haus von Paulas Eltern in Norderstedt. Danach schrieb er die Namen derjenigen nieder, auf die er in den vergangenen vierundzwanzig Stunden getroffen war. Er führte die vier Mitglieder der Familie Ehlers aufund verlieh der Abwesenheit, die Anna beschrieben hatte, eine greifbare Form: drei real existierende Mitglieder einer Familie – Vater, Mutter und Bruder; drei Personen, die man aufspüren, mit denen man reden und von denen man sich ein lebendiges Bild machen konnte. Und dann war da das vierte Familienmitglied. Die Tochter. Für Fabel blieb sie vorläufig noch eine abstrakte Vorstellung, ein unwirkliches Gemenge aus den Eindrücken und Erinnerungen anderer Personen; die Fotografie eines Mädchens, das die Kerzen auf einer Geburtstagstorte ausbläst.
    Während Paula ein Name ohne Gestalt war, erschien das am Strand gefundene Mädchen als Gestalt ohne Namen, als Körper ohne Identität. Fabel schrieb die Worte »Blaue Augen« in die Mitte des Blattes. Natürlich hätte er die Fallnummer einsetzen können, doch solange er keinen Namen besaß, war »Blaue Augen« die konkreteste Bezeichnung. Sie hörte sich eher nach einer Person als nach der toten Sache an, zu der sie durch eine Fallnummer gemacht wurde. Er zog einen Strich von »Blaue Augen« zu Paula und ließ in der Mitte eine Lücke, in die er ein doppeltes Fragezeichen eintrug. Fabel war davon überzeugt, dass sich hier sowohl der Mörder des Mädchens am Strand als auch der Entführer und wahrscheinliche Mörder von Paula Ehlers verbarg. Zwar konnte es sich um zwei Personen handeln, nicht jedoch um zwei oder mehr unabhängig voneinander agierende Individuen. Ob es ein Einzelner, ein Duo oder ein Team war – wer immer »Blaue Augen« ermordet hatte, musste auch Paula Ehlers entführt haben.
    Plötzlich klingelte das Telefon.

7.
    Norddeich, Ostfriesland, Donnerstag, den 18. März, 18.30 Uhr
    Er hatte diesen Ort, durch den er geprägt worden war, bisher als seine Heimat bezeichnet. Aber während er nun wieder einmal in der vom Horizont beherrschten Landschaft stand, wusste er, dass er woanders hingehörte. Inzwischen war Hamburg der Ort, der Fabel und das, was er geworden war, wirklich definierte. Sein Abschied von dieser Landschaft hatte sich in zwei Stadien vollzogen: zuerst mit dem Umzug aus dem Familienwohnsitz landeinwärts nach Oldenburg, wo er an der neu gegründeten Carl-von-Ossietzky-Universität Englisch und Geschichte studiert hatte; dann, nach dem Abschluss, mit dem Wechsel an die Universität Hamburg, wo er europäische Geschichte studierte und ein neues Leben führte.
    Fabel parkte seinen BMW hinter dem Haus. Er ließ die Hintertür aufschwingen und griff nach seiner hastig gepackten Reisetasche. Danach richtete er sich auf und blieb einen Moment lang still stehen, um all die Formen und Klänge seiner Kindheit in sich aufzunehmen: das unablässige, langsame Pulsieren des Meeres jenseits der Baumgruppe, des Deiches und der Dünen hinter dem Haus; die einfache, ernste Geometrie seines Elternhauses, gedrungen und entschlossen unter seinem riesigen roten Ziegeldach; die hellgrünen Gräser, die sich in der frischen Brise wie Wasser kräuselten, und den mächtigen Himmel, der sich auf die flache Landschaft senkte.
    Die akute Panik, die er bei dem Anruf im Präsidium verspürt hatte, war während der dreieinhalbstündigen Fahrt auf der A 28 zu einem bohrenden, nicht nachlassenden Schmerz geworden. Immerhin war es eine gewisse Erleichterung gewesen, dass ihn seine Mutter, die sich in ihrem Krankenhausbett in Norden schon aufrichten und sitzen konnte, bei seinem Besuch ermahnt hatte, sich nicht aufzuregen und dafür zu sorgen, dass auch sein Bruder Lex die Nerven behielt.
    Aber nun, in der vertrauten Umgebung seiner Kindheit, verstärkte sich sein Panikgefühl wieder. Er tastete in der Tasche seines Mantels, den er über sein Reisegepäck geworfen hatte, nach dem Ersatzschlüssel und schloss die schwere hölzerne Küchentür auf. Unten an der Tür waren nach all den Jahrzehnten noch immer die dunklen Schrammen im Lack zu erkennen, die Fabel und sein Bruder, die Hände voller Schulbücher, mit ihren Schuhspitzen hinterlassen hatten. Sogar jetzt noch, nicht mit einer Schultasche,

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