Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
aufgestellt, wo und wann sie auf ihreArbeit eingehen konnten, doch irgendwie waren sie in die Gewohnheit verfallen, jeden Tag unbeschwert zu beginnen. Danach schritten sie auf ihren separaten, doch parallelen Pfaden hinunter in die Welt der Verwirrung, der Gewalt und des Todes, die ihren beruflichen Alltag ausmachte.
Fabel hatte die Wohnung kurz vor Susanne verlassen. Er war knapp nach acht Uhr im Präsidium eingetroffen und hatte die Fallakten und seine Notizen vom Vortag durchgesehen. Eine halbe Stunde lang fügte er der Skizze, die sich bereits in seinem Geist herauszubilden begann, Einzelheiten hinzu. Er versuchte, objektiv zu bleiben, aber er konnte nicht verhindern, dass sich das entsetzte, kraftlose Gesicht von Frau Ehlers immer wieder in seine Gedanken schob. Und dabei wuchs Fabels Zorn erneut: Die Glut des vergangenen Abends entfachte sich noch intensiver in der kalten, hellen Luft des neuen Tages. Was für ein Ungeheuer konnte Befriedigung daraus beziehen, eine Familie einer solchen psychischen Folter auszusetzen? Und dann noch eine Familie, deren Tochter, wie Fabel glaubte, ebenfalls ermordet worden war. Aber er wusste, dass er ihre Qual verlängern musste, denn er konnte sich nicht auf die gescheiterte Identifizierung eines Opfers verlassen, das seit drei Jahren verschollen war. Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass sich ihr Äußeres durch die Zeit, das Trauma und die inzwischen erlittenen Misshandlungen verändert hatte.
Fabel wartete bis neun Uhr, bevor er zum Telefonhörer griff, die Kurzwahltaste mit der einprogrammierten Nummer des Instituts für Rechtsmedizin drückte und bat, mit Herrn Dr. Möller verbunden zu werden. Möller war der Gerichtsmediziner, mit dem Fabel am häufigsten zu tun hatte. Seine arrogante, schroffe Art hatte Möller die Antipathie fast jedes Mordermittlers in Hamburg eingebracht, doch Fabel empfand einen großen Respekt vor seiner Fachkenntnis.
»Möller…« Die Stimme am anderen Ende der Leitungklang abweisend, als werde er bei der Erledigung einer unendlich wichtigeren Aufgabe unterbrochen.
»Guten Morgen, Herr Dr. Möller. Kriminalhauptkommissar Fabel.«
»Was gibt’s, Herr Fabel?«
»Sie werden eine Autopsie des Mädchens durchführen, das wir am Blankeneser Strand gefunden haben. Hinsichtlich ihrer Identität besteht eine gewisse Verwirrung.« Fabel erzählte die Vorgeschichte, darunter auch die Szene im Institut für Rechtsmedizin, wo das Ehepaar Ehlers die Leiche identifizieren sollte. »Ich habe den Verdacht, dass das tote Mädchen trotz alledem Paula Ehlers sein könnte, obwohl diese Möglichkeit sehr gering ist. Ich möchte die Familie nicht noch mehr belasten, aber ich muss die Identität der Toten feststellen.«
Möller schwieg einen Moment lang. Als er antwortete, fehlte seiner Stimme der übliche herrische Klang. »Wie Sie wissen, könnte ich das anhand der Unterlagen ihres Zahnarztes überprüfen. Aber leider besteht die schnellste und sicherste Methode darin, einen Mundschleimhautabstrich bei der Mutter des verschwundenen Mädchens zu machen. Dann könnte ich umgehend einen DNS -Vergleich hier im Labor des Instituts vornehmen lassen.«
Fabel dankte Möller und legte auf. Dann rief er Holger Brauner an, dessen taktvolle Art er schätzte, und bat ihn, den Mundschleimhautabstrich bei der Mutter persönlich vorzunehmen.
Nachdem er das Telefonat beendet hatte, sah er durch die gläserne Trennwand seines Büros, dass Anna Wolff und Maria Klee nun beide an ihrem Schreibtisch saßen. Er rief Anna an und bat sie, in sein Büro zu kommen. Nachdem sie eingetreten war, schob er ihr das Foto des toten Mädchens über den Schreibtisch zu.
»Ich möchte wissen, wer sie wirklich ist, Anna. Und zwar bis heute Abend. Wie weit bist du inzwischen?«
»Ich habe eine Anfrage bei der BKA -Datenbank für vermisste Personen laufen. Vermutlich ist sie dort aufgeführt. Außerdem habe ich die Suche auf weibliche Personen zwischen zehn und fünfundzwanzig Jahren eingeschränkt und den Schwerpunkt auf Fälle mit einem Radius von 200 Kilometern um Hamburg gelegt. Davon kann es nicht allzu viele geben.«
»Das genügt für heute als Aufgabe für dich, Anna. Lass alles andere liegen und konzentriere dich darauf, die Identität des Mädchens zu ermitteln.«
Anna nickte. »Chef…« Sie zögerte. Ihre Haltung wirkte verlegen, als wisse sie nicht, was sie sagen sollte.
»Was ist los, Anna?«
»Das war schlimm. Gestern Abend, meine ich. Ich konnte danach nicht
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