Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
die Suche erweitert. Schließlich könnte sie aus einem anderen Teil Deutschlands oder sogar aus dem Ausland stammen. Bei dem verstärkten Handel mit Frauen aus Osteuropa kann man nie wissen.«
Fabel seufzte. Der Handel mit jungen Frauen aus Russland, dem Balkan und anderen Ländern östlich des vermögenden Westens war in Hamburg zu einem brennenden Problem geworden. Angelockt durch das Versprechen, als Model oder Hausangestellte arbeiten zu können, wurden diese Frauen und Mädchen als rechtlose Sklavinnen in die Prostitution verkauft. »Bleib dran, Anna«, sagte Fabel, obwohl er wusste, dass es nicht nötig war – so wie er gewusst hatte, dass er sie im Präsidium vorfinden würde. Wenn Anna sich einmal eine Aufgabevorgenommen hatte, war sie unermüdlich. »Gibt es sonst noch etwas?«
»Kommissar Klatt ist heute Nachmittag hier aufgetaucht. Ich habe ihm erklärt, dass deine Mutter erkrankt ist und dass du zu ihr fahren musstest. Ich habe ihn durchs Präsidium geführt und ihn allen vorgestellt. Er schien beeindruckt zu sein. Sonst gibt’s nichts Neues. – Ach, doch. Holger Brauner hat angerufen. Er hat das Material für die DNS -Tests beschafft und wird Möller die Ergebnisse morgen früh im Institut für Rechtsmedizin vorlegen.«
»Vielen Dank, Anna. Ich rufe morgen an und lasse euch wissen, welche Pläne ich habe.«
»Vielleicht kannst du dann auch mit Werner sprechen. Er macht sich Sorgen um dich. Um deine Mutter.«
»Einverstanden.« Fabel brach die Verbindung mit seiner neuen Welt ab und ließ sich wieder in die Dunkelheit und Stille seiner alten Welt fallen.
Als Fabel zum Kreiskrankenhaus Norden zurückkehrte, hatte der Arzt, mit dem er am Nachmittag gesprochen hatte, seine Schicht beendet, doch die Oberschwester war noch auf der Station. Eine Frau mittleren Alters mit einem runden, offenen und ehrlichen Gesicht lächelte Fabel an und brachte ihn auf den neuesten Stand, ohne dass er Fragen stellen musste.
»Ihrer Mutter geht es bestens«, versicherte die Schwester. »Sie hat geschlafen, nachdem Sie fortgegangen sind. Danach haben wir noch ein EKG gemacht. Es gibt wirklich keinen Grund zur Beunruhigung, wenn sie sich nicht überanstrengt.«
»Besteht die Gefahr eines neues Anfalls?«
»Na ja, wenn man einen Infarkt gehabt hat, kann ein zweiter durchaus folgen. Aber das muss nicht so sein. Wichtig ist, dass Ihre Mutter in den nächsten Tagen wieder auf die Beine kommt und in Bewegung bleibt. Vermutlich kann sie morgen nach Hause entlassen werden. Oder übermorgen.«
»Haben Sie vielen Dank, Schwester«, sagte Fabel und wandte sich dem Zimmer seiner Mutter zu.
»Du erinnerst dich wohl nicht an mich, Jan?«, fragte die Schwester. Er drehte sich um. Nun war ihr Lächeln zaghaft und schüchtern geworden. »Hilke. Hilke Tietjen.«
Es dauerte ein oder zwei Sekunden, bis Fabel den Namen in der langen Liste seines Gedächtnisses gefunden hatte. »Mein Gott. Hilke. Das muss zwanzig Jahre her sein! Wie geht’s dir?«
»Eher fünfundzwanzig. Mir geht’s gut, danke. Und dir? Ich habe gehört, dass du Kommissar bei der Hamburger Polizei bist.«
»Inzwischen Erster Hauptkommissar«, erwiderte Fabel lächelnd. Er suchte in dem runden Gesicht mittleren Alters nach Spuren der jüngeren, schlankeren, hübscheren Hilke Tietjen, die er einst gekannt hatte. Er fand die Spuren hinter einer archäologischen Schicht aus Jahren und zusätzlichem Gewicht. »Wohnst du noch in Norddeich?«
»Nein, ich wohne hier in Norden. Jetzt heiße ich Hilke Freericks. Erinnerst du dich an Dirk Freericks aus der Schule?«
»Natürlich«, log Fabel. »Hast du Kinder?«
»Vier«, lachte sie. »Alles Jungen. Und du?«
»Eine Tochter. Gabi.« Fabel war verärgert über sich selbst, als er merkte, dass er seine Scheidung nicht eingestehen wollte. Er lächelte verlegen.
»Es war schön, dich wiederzusehen, Jan«, sagte Hilke. »Du brennst wahrscheinlich darauf, deine Mutter zu besuchen.«
»Ich habe mich auch gefreut, dich wiederzusehen«, meinte Fabel. Er blickte ihr hinterher, während sie über den Krankenhauskorridor davonging. Eine kleine, breithüftige Frau mittleren Alters namens Hilke Freericks, die 24 Jahre zuvor Hilke Tietjen geheißen, eine schlanke Figur und ein hübsches, sommersprossiges Gesicht mit üppigem langem, rotblondem Haar besessen hatte. Fabel erinnerte sich an die leidenschaftlichen,atemlosen Momente mit ihr in den Sanddünen der Küste von Norddeich. Der starke Wandel, den das Verstreichen fast eines
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