Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
sondern mit einer ledernen Reisetasche in der Hand und einem teuren Jaeger-Mantel über dem Arm, wollte er die Tür instinktiv mit dem Fuß aufstoßen, während er den Griff niederdrückte.
Fabel betrat die Küche. Das Haus war leer und still. Er legte seine Tasche und seinen Mantel auf den Tisch und blieb einen Moment lang stehen, um alles zur Kenntnis zu nehmen, was sich in der Küche nicht geändert hatte: die geblümten Handtücher über den Chromgriffen des Herdes, den alten Tisch und die Stühle aus Kiefernholz, das Korkwandbrett, an das zahlreiche Notizen und Postkarten über- und untereinander geheftet waren, und das schwere Holzbüfett an der Wand. Fabel merkte, dass sich das Kind in ihm über die kleinen Veränderungen ärgerte, die seine Mutter vorgenommen hatte: über einen neuen Kessel, einen Mikrowellenherd und ein neues Ikea-Vorratsregal in der Ecke. Irgendwo in seinem tiefsten Inneren gab es ein Gefühl, dass diese Neuerungen ein winziger Verrat waren, dass sich das Haus seiner Kindheit nicht – wie er selbst – mit den Jahren hätte verändern sollen.
Ihm stand der Sinn nach einem Tee. Es wäre ihm gar nicht eingefallen, sich einen Kaffee zu kochen, schließlich war er daheim in Ostfriesland, wo das Teetrinken ein wichtiger Teil des Lebens ist. Seine Mutter, obwohl keine gebürtige Ostfriesin, hatte sich die örtlichen Teerituale begeistert angeeignet. Dazugehörte auch die morgendliche Teepause um elf Uhr, die auf Frysk, dem zwischen dem Deutschen, dem Niederländischen und dem Altenglischen angesiedelten Dialekt, als »Elfürtje« bekannt ist. Er griff automatisch in den Schrank, wo er, wie erwartet, alles auf einen Griff fand: den Tee, die traditionellen Kluntjes aus Kandiszucker sowie die weißen und hellblauen Tassen. Er goss den Tee auf, setzte sich an den Tisch und trank ihn, während er dem Echo der tief in der Stille verborgenen Stimmen seines Vaters und seiner Mutter lauschte. Das Klingeln seines Handys ließ die Ruhe zersplittern. Es war Susanne. Die Sorge schien ihr die Kehle zuzuschnüren.
»Jan… Ich habe deine Nachricht gerade erhalten. Ist alles in Ordnung? Wie geht’s deiner Mutter?«
»Gut. Sie hat einen leichten Herzanfall gehabt, aber nun ist ihr Zustand stabil.«
»Bist du noch im Krankenhaus?«
»Nein, ich bin zu Hause… Ich meine, bei meiner Mutter. Ich werde hier übernachten und auf meinen Bruder warten. Er dürfte morgen eintreffen.«
»Möchtest du, dass ich zu dir komme? Ich könnte jetzt aufbrechen und in zwei oder drei Stunden dort sein…«
Fabel versicherte ihr, das sei nicht nötig. Er werde schon zurechtkommen, und wahrscheinlich werde seine Mutter in ein oder zwei Tagen wieder zu Hause sein. »Es war einfach ein Schuss vor den Bug«, erklärte er. Aber nachdem Fabel aufgelegt hatte, fühlte er sich plötzlich sehr einsam. Er hatte ein paar belegte Brötchen gekauft, mochte sie im Moment jedoch nicht essen und legte sie in den Kühlschrank. Dann trank er den Rest seines Tees und stieg die Treppe zu seinem einstigen Zimmer unter dem steilen Giebeldach hinauf. Fabel warf seine Reisetasche und den Mantel in die Ecke und legte sich auf das Einzelbett, ohne das Licht anzuschalten.
In der Dunkelheit versuchte er, sich an die Stimme seines seit langem toten Vaters zu erinnern, wie er Fabel und seinenBruder Lex von der Treppe aus aufforderte, endlich aufzustehen. Er hörte nur ein einziges Wort: »Traanköppe«. So hatte der Vater die beiden Jungen morgens oft genannt. Fabel seufzte. Das war typisch für die mittleren Jahre: Stimmen, die man früher täglich gehört hat, verblassen in der Erinnerung, bis nur noch ein oder zwei Worte übrig sind.
Fabel nahm sein Handy vom Nachttisch und suchte, immer noch, ohne das Licht einzuschalten, im Verzeichnis nach Anna Wolffs Privatnummer. Es klingelte mehrere Male, bevor sich ihr Anrufbeantworter meldete. Er beschloss, keine Nachricht zu hinterlassen, sondern wählte Annas Direktnummer im Präsidium. Die gewöhnlich muntere Stimme der Kommissarin war durch Müdigkeit gedämpft.
»Chef… ich hatte nicht erwartet, von dir zu hören… Deine Mutter…«
»Sie wird sich erholen. Ein leichter Herzanfall, sagen die Ärzte. Ich war den größten Teil des Nachmittags im Krankenhaus und fahre später wieder hin. Hast du etwas über die Identität des Mädchens herausfinden können?«
»Leider nein, Chef. Das Ergebnis meiner BKA -Recherche ist eingetroffen. Keine vermissten Personen mit den entsprechenden Merkmalen. Ich habe
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