Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
einem Krimi. An den Titel oder den Autor kann ich mich nicht erinnern, aber das Buch basiert auf der Idee, dass einer der Brüder Grimm ein Mörder war…«
Otto lächelte wissend. » Die Märchenstraße . Von Gerhard Weiss.«
Fabel schnippte mit den Fingern. »Ganz richtig!«
»Du brauchst nicht zu beeindruckt von meinen erstaunlichen Literaturkenntnissen zu sein – es wird zurzeit vom Verlag groß herausgestellt. Übrigens würde es vermutlich Herrn Weiss’ literarisches Ehrgefühl verletzen, das Buch als Krimi bezeichnet zu hören. Es vertritt die These, dass ›die Kunst das Leben und dies wiederum die Kunst imitiert‹. Es gibt etliche Mitglieder der Literaturszene, die sich darüber aufregen.« Otto runzelte die Stirn. »Warum um alles in der Welt möchtest du einen historischen Thriller kaufen? Hast du in Hamburg nicht schon genug mit heutigen Morden zu tun?«
»Viel zu viel, Otto. Taugt es was? Das Buch, meine ich.«
»Unzweifelhaft ist es provokativ. Und Weiss ist mit der Folklore, der Philologie und den Werken der Brüder Grimm vertraut. Aber sein Stil ist protzig und gespreizt. Um ehrlich zu sein, in Wirklichkeit ist es bloß ein abgedroschener Thriller mit literarischen Ansprüchen. Das ist jedenfalls meine Meinung… Komm und lass uns einen Kaffee trinken.« Otto führteFabel in die Kunstabteilung des Geschäfts. Seit Fabels letztem Besuch waren zwei Regalreihen entfernt worden, um Platz zu schaffen. Die obere Galerie blickte nun hinunter auf eine Fläche mit Ledersofas und Kaffeetischen, auf denen sich Zeitungen und Bücher stapelten. In der Ecke stand ein Espressogerät auf einem Tresen.
»So ist das heute«, grinste Otto. »Ich habe diesen Laden aufgemacht, weil ich Literatur liebe und Bücher verkaufen will. Aber nun serviere ich Caffè lattes und macchiatos.« Er deutete auf ein Sofa, und Fabel setzte sich hin, während Otto an die Kaffeebar trat. Kurz darauf kam er mit einem unter den Arm geklemmten Buch und zwei Tassen Kaffee in den Händen zurück. Eine davon stellte er vor Fabel auf den Tisch. Natürlich hatte Otto ein wenig Kaffee verschüttet, der nun in der Untertasse stand.
»An deiner Stelle würde ich bei Büchern bleiben«, sagte Fabel lächelnd.
Otto reichte ihm das Buch, und ein Schluck seines eigenen Kaffees schwappte in die Untertasse. »Das ist es. Die Märchenstraße .« Es war ein dickes Hardcover. Auf dem düsteren Schutzumschlag prangte der Titel in gotischer Fraktur. Das Cover war in der Mitte mit einem kleinen Kupferstich aus dem neunzehnten Jahrhundert illustriert. Er zeigte ein kleines Mädchen, das einen roten Umhang mit einer Kapuze trug und durch einen Wald spazierte. Hinter dem Kind glühten rote Augen in der Dunkelheit. Fabel drehte das Buch um und betrachtete die Rückseite. Dort befand sich ein Foto von Weiss: Sein ernstes Gesicht war hart und breit, geradezu brutal, und auch seine Schultern und sein Hals sahen wuchtig aus.
»Hast du noch etwas von ihm gelesen, Otto?«
»Eigentlich nicht… ich habe nur ein, zwei seiner Bücher durchgeblättert. Er hat früher schon ähnliche Dinge veröffentlicht. Seine Anhängerschaft ist recht groß. Komische Typen. Aber hiermit scheint er den Durchbruch geschafft zu haben.«
»Was meinst du mit ›komische Typen‹?«
»Seine früheren Bücher waren Fantasy-Romane. Er nannte sie ›Wahlwelten-Chronik‹. Sie beruhten auf einer ähnlichen Voraussetzung wie dieses neue Buch, aber sie spielten in einer ganz und gar erfundenen Welt.«
»Science Fiction?«
»Nicht ganz«, sagte Otto. »Die Welt, die Weiss schuf, war immer die gleiche wie unsere, aber die Länder hatten andere Namen, eine andere Geschichte und so weiter. Es war so etwas wie eine Parallelwelt. Außerdem lud er seine Fans ein, sich einen Platz in seinen Büchern zu kaufen. Wenn sie ihm ein paar tausend Euro schickten, brachte er sie in der Story unter. Je mehr sie zahlten, desto größer war die Rolle, die sie in der Handlung spielten.«
»Warum sollte jemand dafür bezahlen?«
»Es hat alles mit Weiss’ merkwürdigen Literaturtheorien zu tun.«
Fabel musterte das Gesicht auf der Rückseite des Schutzumschlags. Die Augen waren unglaublich dunkel. So dunkel, dass sich die Pupillen nicht von der Iris unterscheiden ließen. »Erklär sie mir… Seine Theorien, meine ich.«
Otto machte ein Gesicht, das die Schwierigkeit der Aufgabe andeutete. »Mein Gott, ich weiß es nicht, Jan. Eine Mischung aus Aberglauben und Quantenphysik, könnte man sagen. Oder
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