Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
er Susanne bat, an seiner Fallkonferenz am folgenden Nachmittag teilzunehmen. Sie gingen ins Bett und liebten sich langsam und schläfrig, bevor sie einschlummerten.
Er saß kerzengerade im Bett, als er aufwachte. Sein Rücken war schweißbedeckt.
»Alles in Ordnung?« Susanne klang besorgt. Er musste sie geweckt haben. »Wieder ein Traum?«
»Ja… Ich weiß nicht…« Er verzog das Gesicht in der Dunkelheit und spähte, als wolle er einen Blick auf seinen entschwindenden Albtraum erhaschen, durch die Schlafzimmertür und das Panoramafenster hinaus auf die glänzenden Lichter, die sich im Wasser der Außenalster widerspiegelten. »Wahrscheinlich.«
»Das passiert zu oft, Jan«, sagte sie und legte die Hand auf seinen Arm. »Diese Träume sind ein Zeichen dafür, dass du nicht mit den Dingen fertig wirst, mit denen du dich beschäftigen musst.«
»Mir geht’s bestens.« Seine Stimme war zu kühl und hart. Er drehte sich zu ihr um und milderte seinen Tonfall. »Es geht mir gut. Wirklich. Wahrscheinlich liegt es nur an deinem Käseomelette.« Er lachte und legte sich wieder hin.
Sie hatte Recht: Die Träume wurden schlimmer. Jeder Fall schien sich nun in seinen Schlaf einzuschleichen. »Ich weiß nicht einmal mehr, worum es ging«, log er. Zwei gesichtslose Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hatten auf einer Lichtung im Wald gesessen und sich ein karges Picknick munden lassen. Vera Schillers Villa zeichnete sich durch die Bäume ab. In dem Traum war weiter nichts geschehen, doch Fabel hatte eine überwältigende Atmosphäre des Bösen verspürt.
Er lag in der Dunkelheit und dachte über die sich draußen ausdehnende Stadt nach. Seine Gedanken schweiften zu dem einsamen Waldpark im Süden. Hänsel und Gretel. In der Finsternis des Waldes verirrte Kinder. An der dunklen Elbe entlang zum helleren Strand von Blankenese. Ein am Elbufer liegendes Mädchen. Das war der Anfang, die Noten der Ouvertüre. Und Fabel hatte ihre Bedeutung übersehen.
Sein ermüdeter Geist versagte und verband unzusammenhängende Dinge miteinander. Er dachte an Paul Lindemann, den jungen Polizisten, den er bei seinem letzten großen Fall verloren hatte, und dann an Henk Hermann, den Schutzpolizeikommissar, der den Tatort im Naturpark gesichert hatte, und schließlich an Klatt, den Kripokommissar aus Norderstedt. Zwei Außenseiter in der Mordkommission, doch einer würde zu ihrem ständigen Mitglied werden. Aber Fabel wusste noch nicht, welcher. Draußen war Gelächter zu hören. Irgendwo in der Milchstraße kamen Gäste aus einem Restaurant. Ein anderes Leben.
Fabel schloss die Augen. Hänsel und Gretel. Ein Märchen. Er entsann sich an das Radiointerview, das er während der Rückfahrt von Norddeich gehört hatte, doch sein erschöpftes Hirn enthielt ihm den Namen des Autors vor. Er würde seinen Freund Otto fragen, der ein Buchgeschäft in den Alsterarkaden besaß.
Ein Märchen.
Fabel schlief ein.
16.
Alsterarkaden, Hamburg, Montag, den 22. März, 10 Uhr
Die Buchhandlung Jensen lag in dem eleganten, überdachten Teil der Arkaden an der Alster. Das hell erleuchtete Buchgeschäft strahlte nordeuropäischen Chic aus und hätte sich genauso gut in Kopenhagen, Oslo oder Stockholm befinden können. Das Innere war mit Buchenregalen und -verschalungen einfach und modern eingerichtet. Alles strahlte Organisationstalent und Effizienz aus, was Fabel immer wieder schmunzeln ließ, denn er wusste, dass der Besitzer, Otto Jensen, völlig desorganisiert war. Otto war ein Kommilitone von Fabel gewesen und seitdem eng mit ihm befreundet. Er war hoch gewachsen, schlaksig und exzentrisch: ein beweglicher Konzentrationspunkt im Chaos. Aber hinter dem schlecht koordinierten Körper verbarg sich ein Geist, der einem Supercomputer glich.
In der Buchhandlung Jensen waren kaum Kunden, als Fabel eintraf. Otto hatte den Rücken der Tür zugewandt. Seine fastzwei Meter große Gestalt streckte sich, um Bücher aus einem Karton auf den Regalen einzuordnen. Ein Band entglitt Ottos Händen, und Fabel sprang vor, um ihn aufzufangen.
»Blitzschnelle Reaktionen sind vermutlich eine Voraussetzung für den Erfolg eines Verbrechensbekämpfers. Dass du sie zeigst, ist sehr beruhigend.«
Otto lächelte seinen Freund an, und sie schüttelten sich die Hand. Nach einem mehrere Minuten dauernden Geplauder über ihre Gesundheit, ihre Partner und Kinder nannte Fabel den Zweck seines Besuches.
»Ich bin auf der Suche nach einem neuen Buch. Einem Roman oder, besser gesagt,
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