Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Fabel.
»Es gab Gerüchte… das kann ich nicht leugnen. Aber es steht mir nicht an, über solche Dinge zu mutmaßen. Ich weiß nicht genauer als Sie, ob Frau Schiller im Bilde war und wie sich das auf ihre Ehe ausgewirkt hat. Entschuldigen Sie…«
Biedermeyer war gerade dabei, einen besonderen Kuchen zu verzieren, und hielt ein kleines, kunstvoll geformtes Stück Zuckerguss zwischen Zeigefinger und Daumen. Nun drehte er sich um, um es vorsichtig auf den polierten Edelstahltresen zu legen. Im Einklang mit den Hygienevorschriften trug Biedermeyer weiße Latexhandschuhe, die mit feinem Mehlstaub überzogen waren. Seine Hände wirkten so groß und seine Finger so unbeholfen, dass Fabel sich kaum vorstellen konnte, wie der Bäckermeister zarte Kuchenornamente anbrachte oder ausgefallenes Feingebäck herstellte.
»Und sein Verhältnis mit Hanna Grünn?«, fragte Werner. »Wussten Sie davon?«
»Nein, aber es überrascht mich nicht. Ich wusste, dass Hanna bei der Wahl ihrer Freunde – wie soll ich es ausdrücken – ein wenig unüberlegt vorging. Auch da gab es alle möglichen Gerüchte, und viele waren natürlich boshaft. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemand Andeutungen über Hanna und Herrn Schiller gemacht hätte.«
»Boshafte Gerüchte? Was meinen Sie damit?«
»Hanna war eine sehr attraktive junge Dame. Sie wissenja, wie gehässig Frauen in solchen Fällen sein können. Aber Hanna trug das ihre dazu bei. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie auf diese Arbeit und vor allem auf die anderen Frauen im Betrieb herabsah.«
»Hatte sie hier besondere Feinde?« Fabel deutete mit dem Kinn in die Fabrikhalle.
»Jemanden, der sie so sehr hasste, dass er sie ermorden wollte?« Biedermeyer lachte und schüttelte den Kopf. »Niemand nahm sie dafür wichtig genug. Man mochte sie nicht, aber niemand hasste sie.«
»Was hielten Sie von ihr?«, wollte Fabel wissen.
Hinter Biedermeyers gewohnheitsmäßigem Lächeln war Kummer zu erkennen. »Ich war ihr Vorgesetzter. Ihre Arbeit wurde den Anforderungen nie so ganz gerecht, und ab und zu musste ich mit ihr reden. Aber sie tat mir Leid.«
»Warum?«
»Sie war eine verlorene Seele. Ich glaube, dass man sie so beschreiben könnte. Es war ihr zuwider, hier zu arbeiten. Hier zu sein. Ich glaube, sie war ehrgeizig, hatte aber keine Möglichkeit, ihren Ehrgeiz zu befriedigen.«
»Wie sieht’s mit anderen Freunden aus?«, fragte Werner.
Ein junger Lehrling schob einen zwei Meter hohen Regalständer an ihnen vorbei. Alle Tabletts waren mit Kringeln aus ungebackenem Teig bedeckt.
Die drei Männer traten zur Seite, bevor Biedermeyer antwortete. »Ja, ich glaube, es gab einen. Ich weiß nichts anderes über ihn, als dass er sie manchmal mit dem Motorrad abholte. Er schien ein übler Typ zu sein.« Biedermeyer machte eine Pause. »Stimmt es, dass sie zusammen gefunden wurden? Herr Schiller und Fräulein Grünn, meine ich.«
Fabel lächelte. »Vielen Dank für Ihre Zeit, Herr Biedermeyer.«
Sie waren bereits auf dem Parkplatz, als Fabel das aussprach, was Werner und er gedacht hatten.
»Ein Motorrad. Ich glaube, wir sollten uns bei der Spurensicherung nach dem Reifentyp und der Marke erkundigen, die zu den Abdrücken im Naturpark passen.«
22.
U-Bahn-Station Hauptbahnhof-Nord, Hamburg, Dienstag, den 23. März, 18.30 Uhr
Ingrid Wallenstein war es zuwider, in der heutigen Zeit mit der U-Bahn zu fahren. Die Welt hatte sich über ihr Begriffsvermögen hinaus verändert, und es gab hier so viele unliebsame Leute. Junge Leute. Gefährliche Leute. Verrückte Leute. Wie die verschiedenen »S-Bahn- und U-Bahn-Schubser«. Nach einem hielt die Polizei seit Monaten Ausschau. Was für ein Mensch brachte es fertig, einen anderen vor einen Zug zu stoßen? Und warum hatten sich die Dinge in den vergangenen fünfzig Jahren so sehr gewandelt?
Frau Wallenstein und ihre Generation hatten weiß Gott genug durchgemacht, um wahnsinnig werden zu können, aber sie waren es nicht geworden. Die Nachkriegsgeneration dagegen hatte nur damit fertig werden müssen, dass sie jederzeit alles haben konnte, was sie wollte. Deshalb hatte Frau Wallenstein wenig für junge Leute übrig: Ihnen war erspart geblieben, was die ältere Generation erlitten hatte, und trotzdem waren sie unzufrieden. Sie waren frech, nachlässig und respektlos geworden. Was würden sie sagen, wenn sie das erlebt hätten, was sie selbst als Kind und als junge Frau ertragen hatte! Den Krieg, den Terror und die Vernichtung.
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