Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
Rand des Bahnsteigs getreten. Und sie blieb nicht stehen. Frau Wallenstein starrte auf die Stelle, wo die andere hätte sein sollen, aber sie war verschwunden.
Ein abscheulicher, dumpfer Aufschlag war zu hören, als der Zug auf den Körper traf, und kurz darauf hallten die Schreie der anderen Passagiere auf dem Bahnsteig durch die Station.
Frau Wallenstein blieb regungslos stehen, lehnte sich auf ihren Krückstock, um den Schmerz in ihrem arthritischen Knie zu lindern, und starrte weiterhin auf die Stelle, an der die Frau, mit der sie sich gerade noch unterhalten hatte, gewesen war.
Sie hatte sich vor den Zug geworfen. Warum denn bloß? Was war aus dieser Welt geworden?
23.
Buxtehude, Mittwoch, den 24. März, 13.10 Uhr
Es dauerte etwas über eine halbe Stunde, bis Fabel und Werner Buxtehude erreichten. Der Himmel hatte sich aufgehellt und die kleine Stadt in ein gleißendes Licht getaucht. Doch ein wütender Wind zerrte immer noch an Fabels Regenmantel, als Werner und er von ihrem Auto zu einem Restaurant am Westfleth in der Altstadt gingen.
Buxtehude sieht aus wie ein niederländisches Städtchen, das irgendwie nach Osten verlagert worden ist und fast mit Hamburg zusammengestoßen wäre. Die Este spaltet sich in der Altstadt in den Ostviver und den Westviver, die in Kanäle übergehen und von einem halben Dutzend Brücken in holländischem Stil überwölbt werden. Sogar das Gebäude, in dem das kleine Restaurant lag, schien die Schultern hochgezogen zu haben, um sich zwischen seine Nachbarn zu quetschen. Fabel vermutete, dass es seit mindestens zwei Jahrhunderten auf die Kanäle und Brücken hinausblickte.
Bei der Fahrt in die Stadt hatten ihn Straßennamen wie Gebrüder-Grimm-Weg, Rotkäppchenweg und Dornröschenweg an die finsteren Töne erinnert, die in den Schatten dieser Ermittlung lauerten. Jedes Mal, wenn Fabel jetzt von den Brüdern Grimm hörte, stellte er sich Jacob Grimm als die erfundene Gestalt in dem Buch von Weiss vor. Die respektierte und einflussreiche historische Persönlichkeit wurde von Weiss’ pedantischem Ungeheuer verdrängt. Die Theorie des Autors schien tatsächlich zu funktionieren.
Sie nahmen am Fenster Platz und schauten über das Fleth, den innerstädtischen Hafenkanal, der von Bäumen und weißen Zäunen gesäumt war, und weiter zum Ostfleth. Ein kleines Segelfrachtschiff aus dem neunzehnten Jahrhundert, die »Ewer Margareta«, war zu Ausstellungszwecken vertäut, und die vielfarbenen Wimpel flatterten ruhelos in der steifen Brise. Fabel überflog die Speisekarte und bestellte einen Thunfischsalat und ein Mineralwasser. Werner dagegen studierte das gesamte Angebot, bevor er sich für ein Schweineschnitzel und eine Kanne Kaffee entschied. Fabel lächelte bei dem Gedanken, wie Werner durch diesen kleinen Akt der Gründlichkeit den Unterschied zwischen ihnen verdeutlicht hatte. Als Polizisten. Als Menschen. Als Freunde.
»Ich lese gerade ein Buch von einem Autor namens Gerhard Weiss«, meinte Fabel, während er weiterhin aus dem Fensterblickte und zusah, wie der Wind das alte Segelboot zauste, das an seine Zeit in der Ewerflotte zurückzudenken schien, als es Tee, Mehl und Holz über die norddeutschen Wasserwege getragen hatte. »Es heißt Die Märchenstraße und handelt von Jacob Grimm… Na ja, nicht ganz, sondern von einigen Morden, die sich auf die Grimm’schen Märchen stützen.«
»Mist. Gibt es da eine Verbindung?«
Fabel wandte den Blick vom Fenster ab. »Ich weiß es nicht. Aber es ist ein merkwürdiges Zusammentreffen.«
»Das kann man wohl sagen.« Werner setzte seine Kaffeetasse nieder und runzelte die Stirn. »Warum hast du das nicht früher erwähnt?«
»Ich habe erst gestern Abend angefangen, das Buch zu lesen. Und ich bin durch reinen Zufall darauf gestoßen. Es war eher nebensächlich. Aber nun, nachdem ich mit dem Lesen begonnen habe…«
Werners Miene deutete an, dass Fabel einen unverständlichen Fehler gemacht hatte. »Das muss untersucht werden, wenn du mich fragst. Es könnte ja sein, dass sich der Mörder durch dieses Buch und nicht durch die Grimm’schen Märchen , die Deutschen Sagen oder eine der anderen Sammlungen der Grimms durcharbeitet.«
»Ein Serienmörder, der eine Anleitung benutzt?« Fabels Lachen hatte einen bitteren Unterton. »Möglich ist alles.«
»Jan, du weißt, dass wir diesen Knaben überprüfen müssen. Wie heißt er noch?«
»Weiss.« Fabel wandte sich wieder dem Frachter zu. Schiffe wie dieses waren bereits durch die
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