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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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Geschichte existiert übrigens in ganz Europa – bei den Brüdern Grimm als ›Fitchers Vogel‹, die Italiener nennen sie ›Silbernase‹, und der englische Blaubart heißt ›Mr. Fox‹. In allen führt weibliche Neugier zur Entdeckung einer geheimen, blutigen Kammer. Eines Mordgemachs.«
    Weiss machte eine Pause, als betrachte er die Illustrationen erneut. »Hermann Vogel war Deutscher. Er illustrierte eine französische Sage, aber er konnte nicht anders, als etwas aus seinem eigenen kulturellen Hintergrund einzufügen. Der Hackblock und das Beil sind aus dem Märchen ›Fitchers Vogel‹ der Brüder Grimm entlehnt. Wie gesagt, die Geschichte wird überall in Europa erzählt, und die Details sind mehr oder weniger die gleichen. Es muss reale Ereignisse, möglicherweise die Taten von Cunmar dem Verfluchten, gegeben haben, die den Ausgangspunkt bildeten. Aber worauf ich hinauswill: Diese warnenden Geschichten für Kinder, diese uralten Fabeln und Sagen… sie alle beweisen, dass der Serienvergewaltiger oder -mörder oder -kinderentführer kein heutiges Phänomen ist. Der große, böse Wolf hat nichts mit Wölfen zu tun.« Weiss lachte. »Komischerweise war der Fluch, der Cunmar seinen Beinamen einbrachte, offenbar der, dass er seiner Sünden wegen in einen Werwolf verwandelt wurde. Irgendwann überschneidet sich alles Geschichtliche mit Mythen und Sagen.«
    Weiss nahm einen Roman aus dem vor ihm stehenden Regal. Im Gegensatz zu den anderen war das Buch neu: eine gebundene Ausgabe in einer glänzenden Schutzhülle. Fabel konnte den Namen des Autors nicht erkennen, aber er war kein Deutscher, sondern Engländer oder Amerikaner. Weiss ließ das Buch auf den Ordner mit den Briefen fallen. »Heute erfinden wir diese Märchen ständig neu. Die gleichen Geschichten mit neuen Gestalten. Dies ist ein Bestseller über die Jagd nach einem Serienmörder, der seine Opfer rituell zerstückelt. So sehen unsere heutigen Märchen aus. Statt Elfen und Zwergen und hungrigen Wölfen, die in der Dunkelheit des Waldes in der Wildnis lauern, haben wir Kannibalen und Sezierer und Entführer, die in der Dunkelheit unserer Städte lauern. Es liegt in unserem Wesen, unser Böses als etwas Außergewöhnliches oder Anderes zu maskieren, und deshalb ist in Büchern und Filmen von Außerirdischen, Haien, Vampiren, Geistern oder Hexen die Rede. In Wirklichkeit gibt es nur ein Tier, das gefährlicher und raubgieriger ist als jedes andere in der Geschichte der Natur. Uns selbst. Der Mensch ist nicht nur das schlimmste Raubtier des Planeten, er ist auch das einzige Geschöpf, das aus reiner Lust tötet, zur sexuellen Befriedigung oder zur Durchsetzung der abstrakten Ideen eines religiösen, politischen oder sozialen Dogmas, das von organisierten Gruppen vertreten wird. Es gibt nichts Tödlicheres oder Bedrohlicheres als den einfachen Mann oder die einfache Frau auf der Straße. Aber das wissen Sie durch Ihre Arbeit selbst nur zu gut. Alles Übrige, all die Horrorgeschichten und Märchen und der Glaube an eine noch größere Boshaftigkeit – das ist ein Schleier vor dem Spiegel, in den wir jeden Tag blicken müssen.«
    Weiss setzte sich wieder und bedeutete Fabel, seinem Beispiel zu folgen. »Am meisten fürchten wir unseren Nachbarn, unsere Eltern, die Frau oder den Mann neben uns in der U-Bahn… uns selbst. Und am schwersten fällt es uns, der ungeheuren Banalität dieser Tatsache ins Auge zu sehen.« Weiss drehte die schwere Schnitzarbeit auf seinem Schreibtisch ein wenig, sodass die gefletschten Zähne auf Fabel wiesen. »Das verbirgt sich in uns, Herr Kriminalhauptkommissar. Wir sind die großen, bösen Wölfe.«
    Fabel starrte die Skulptur an und wurde wiederum von ihrer schrecklichen Schönheit angezogen. Er wusste, dass Weiss Recht hatte, denn er sah die Beweise tatsächlich in seiner eigenen Arbeit. Er kannte die brutale Kreativität, zu der der menschliche Geist fähig ist, um andere zu quälen. Oder zu töten.
    »Sie meinen also, dass der Serienmörder keine heutige Erscheinung ist… dass wir früher bloß keinen Namen für ihn hatten?«
    »Genau. Wir alle werden arrogant geboren, Herr Fabel. Jeder von uns glaubt, die Welt neu erfinden zu können, nachdem er in sie hineingeboren worden ist. Aber die traurige Wahrheit lautet, dass wir lediglich Variationen eines Themas sind… oder wenigstens einer gemeinsamen Erfahrung. Das Gute und das Böse auf der Welt wurden bereits vom allerersten Menschen mitgebracht. Es entwickelte sich mit uns.

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