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Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Jan Fabel 02 - Wolfsfährte

Titel: Jan Fabel 02 - Wolfsfährte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Russell
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Darum haben wir uralte Volkssagen und Mythen. Die Brüder Grimm schufen sie nicht, sondern zeichneten sie nur auf. Keine ihrer Geschichten war ihre eigene Erfindung, sondern sie sammelten nur alte Volksmärchen im Rahmen ihrer philologischen Forschung. Die Existenz dieser Erzählungen und die in ihnen allen enthaltene Warnung, sich ›nie weit von zu Hause zu entfernen‹ und ›sich vor Fremden zu hüten‹, sind ein Beweis dafür, dass der Serienmörder kein Nebeneffekt des modernen Lebens ist, sondern uns während unserer gesamten Geschichte begleitet hat. Und die Märchen müssen durch reale Ereignisse inspiriert worden sein, also durch wirkliche Entführungen und Morde. Genauso verbirgt sich die Wahrheit der Lykanthropie, des Mythos vom Werwolf, im Unvermögen früherer Generationen, Psychopathien zu erkennen, zu definieren und zu begreifen. Jeder, Herr Fabel, akzeptiert, dass wir häufig Tatsachen in Dichtung verwandeln. Und ich behaupte, dass wir umgekehrt auch Dichtung zu Tatsachen werden lassen.«
    Fabel musterte Weiss bei dessen Vortrag. Er versuchte herauszufinden, was das dunkle Feuer, die Leidenschaft in den Augen des Schriftstellers anfachte. »Also wenn Sie Jacob Grimm als Kindermörder beschreiben, glauben Sie dann auch, dass sich Ihre dichterische Schöpfung in eine Art Wahrheit verwandelt?«
    »Was ist die Wahrheit?« Weiss’ Lächeln hatte etwas Herablassendes, als fehle Fabel der Intellekt, ihm die Frage zu beantworten.
    »Die Wahrheit«, erwiderte Fabel, »ist eine absolute, unumstößliche Tatsache. Ich habe es jeden Tag mit der Wahrheit, der absoluten Wahrheit, zu tun. Mir ist klar, was Sie sagen wollen… dass die Wahrheit manchmal abstrakt oder subjektiv ist. Jacob Grimm war kein Mörder. Die Person, die ich suche, ist ein Mörder. Das ist eine unumstößliche Tatsache. Die Wahrheit. Und ich muss herausfinden, ob Ihr Buch ihn in irgendeiner Weise inspiriert hat.«
    Weiss machte eine ergebene Geste mit den Händen. Mit großen, kräftigen Händen. »Stellen Sie Ihre Fragen, Herr Kriminalhauptkommissar.«
    Das Gespräch dauerte weitere zwanzig Minuten. Weiss’ Kenntnis von Mythen und Märchen war umfassend, und Fabel machte sich Notizen, während der Autor sprach. Aber irgendetwas an Weiss gefiel ihm nicht. Der Mann hatte etwas Bedrohliches an sich, nicht nur wegen seiner Größe – er vermittelte nicht das gleiche Gefühl aufgestauter Gewalt wie Olsen –, sondern vor allem wegen seiner pechschwarzen Augen. Sie enthielten etwas geradezu Unmenschliches.
    Schließlich erklärte Fabel: »Aber das sind letzten Endes nur Märchen. Sie können doch nicht wirklich glauben, dass sie alle auf reale Ereignisse zurückgehen?«
    »Wirklich nicht?«, entgegnete Weiss. »Nehmen Sie die russische Geschichte von der Hexe Baba Jaga, in deren Hütte alle Möbel aus Knochen bestehen. Sie haben bestimmt von Ed Gien gehört, dem amerikanischen Serienmörder, der als Vorbild für das Buch und den Film ›Psycho‹ und auch für ›Das Schweigen der Lämmer‹ diente. Als die Polizei sein Farmhaus durchsuchte, fand sie Stühle und Hocker aus Menschenknochen und einen fast vollständigen Bodysuit aus der Haut toter Frauen. Wie gesagt, niemand ist einzigartig. Es muss schonvorher zahllose Ed Giens gegeben haben. Höchstwahrscheinlich lieferte eine frühe russische Vorlage den Stoff für das Märchen von Baba Jaga. Und vergessen Sie nicht, Herr Fabel, dass viele dieser Volksmärchen bereinigt worden sind. Nehmen Sie Ihr ›Dornröschen‹-Opfer. In dem ursprünglichen Märchen wurde sie nicht durch einen keuschen Kuss geweckt, sondern es handelte sich um eine Geschichte von Vergewaltigung, Inzest und Kannibalismus.«
    Als Fabel, den Ordner mit den an Weiss geschriebenen Briefen unter dem Arm, wieder auf der Ernst-Mantius-Straße stand, empfand er das Bedürfnis, tief durchzuatmen, als müsse er seinen Körper von innen säubern. Er wusste nicht, warum, aber er hatte das Gefühl, aus einer Höhle entkommen zu sein. In Weiss’ Arbeitszimmer mit dem glänzenden dunklen Holz hatte er sich beengt gefühlt. Hier draußen war die Sonne durchgebrochen und tauchte die altehrwürdigen Villen in ein warmes Licht. Fabel betrachtete jede einzelne, während er zu seinem Auto zurückkehrte. Wie viele verborgene Zimmer, wie viele dunkle Geheimnisse verbargen sich hinter den eleganten Fassaden?
    Er ließ sein Handy aufschnappen. »Maria? Fabel. Ich möchte, dass du mir detaillierte Information über Gerhard Weiss besorgst. Alles,

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