Jan Fabel 02 - Wolfsfährte
mich zu sehr auf eine mögliche Verbindung zu den Morden, um die literarischen Vorzüge des Buches einschätzen zu können. Und eine Verbindung kommt mir sehr wahrscheinlich vor.«
Weiss lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte die Hände, legte die beiden Zeigefinger aneinander und pochte sich damit ans Kinn. Es war eine übertriebene Geste der Nachdenklichkeit. »Es würde mich sehr bekümmern, wenn Sie Rechthätten, Herr Kriminalhauptkommissar. Aber das Hauptthema all meiner Arbeiten lautet: Die Kunst imitiert das Leben, und das Leben imitiert die Kunst. Ich kann niemanden durch meine Texte dazu bringen, einen Mord zu begehen. Solche Leute sind bereits Mörder oder potenzielle Mörder. Sie mögen eine Methode oder einen Tatort imitieren… oder vielleicht sogar ein Thema. Aber sie würden ohnehin morden, ob sie meine Bücher lesen oder nicht. Letzten Endes inspiriere nicht ich sie, sondern sie liefern mir eine Inspiration, wie sie es schon immer für Schriftsteller getan haben.« Weiss senkte seine Finger sanft auf den Ledereinband der Märchensammlung auf seinem Schreibtisch.
»Wie für die Brüder Grimm?«
Weiss lächelte, und wiederum flackerte etwas dunkel in seinen Augen. »Die Brüder Grimm waren Forscher. Sie haben nach absolutem Wissen gestrebt… über die Ursprünge unserer Sprache und unserer Kultur. Wie alle Männer der Wissenschaft ihrer Zeit, als sich die Wissenschaft zur neuen Religion Westeuropas entwickelte, beabsichtigten sie, unsere Vergangenheit unter ein Mikroskop zu legen und sie zu sezieren. Aber es gibt keine absolute Wahrheit und keine definitive Vergangenheit. Sie ist ein Tempus, kein Ort. Was die Brüder Grimm entdeckten, war die gleiche Welt, in der sie selbst lebten – die gleiche Welt, in der wir heute zu Hause sind. Sie fanden heraus, dass es nur der Bezugsrahmen war, der sich geändert hatte.«
»Wie meinen Sie das?«
Weiss erhob sich erneut aus seinem Ledersessel und winkte Fabel heran, der ihm hinüber zu der mit Bildern bedeckten Wand folgte. Es waren Illustrationen aus Büchern des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts.
»Märchen lösen nicht nur literarische Interpretationen aus«, erklärte Weiss. »Einige der besten Künstler haben ihr Talent zur Verfügung gestellt, um die Geschichten zu illustrieren. Das ist meine Sammlung: Gustave Doré, Hermann Vogel, Edmund Dulac, Arthur Rackham, Fernande Biegler, George Cruickshank, Eugen Neureuther – jeder mit einer anderen Interpretation.« Weiss machte Fabel auf ein Bild aufmerksam: Eine Frau betrat einen Raum mit einem Steinfußboden und ließ dabei entsetzt einen Schlüssel fallen. Ein aus einem Baumstumpf bestehender Hackblock und ein Beil befanden sich im Vordergrund der Illustration; beide waren, wie der sie umgebende Fußboden, mit Blut besudelt. Die Leichen mehrerer Frauen, sämtlich in Nachthemden, hingen wie an Fleischerhaken an den Wänden.
»Ich nehme an«, sagte Weiss, »dass Ihnen solche Szenen, vielleicht nicht ganz so extrem, durchaus vertraut sind, Herr Fabel. Es ist ein Tatort. Diese arme Frau hier…« Er tippte an das Glas, das die Illustration schützte. »…ist offensichtlich auf den Unterschlupf eines Serienmörders gestoßen.«
Fabel wurde von dem Bild angezogen. Es war im Stil des neunzehnten Jahrhunderts gefertigt und weckte zu viele Erinnerungen bei ihm. »Woher stammt diese Abbildung?«
»Sie ist das Werk von Hermann Vogel. Späte Achtzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Illustration zu Charles Perraults La Barbe bleue – Blaubart. Eine französische Geschichte über einen grausamen Adligen, der Frauen für ihre Neugier bestraft, indem er sie in einer geheimen Kammer seiner Burg tötet und verstümmelt. Es ist eine Erzählung, eine Fabel, und trotzdem eine universelle Wahrheit. Als Perrault seine Version niederschrieb, war die Erinnerung an reale Gräueltaten, die Adlige begangen hatten, immer noch sehr wach in der französischen Psyche. Zum Beispiel vergewaltigte und ermordete Gilles de Rais, Marschall von Frankreich und Waffengefährte der Johanna von Orleans, Hunderte von Knaben, um seine perverse, unkontrollierte Lust zu befriedigen. Oder nehmen wir Cunmar den Verfluchten, der die Bretagne im sechsten Jahrhundert regierte. Cunmar – oder auch Conomor, wenn Sie wollen – liefert vielleicht die engste historische Parallele zuBlaubart. Er enthauptete alle seine Frauen und schlug schließlich auch der schönen, frommen und hochschwangeren Triphine den Kopf ab. Diese
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