Jan Fabel 05 - Walküre
stieß in der Öffentlichkeit auf große Resonanz und wurde allgemein übernommen.« Fabel warf den Filzmarker auf den Konferenztisch. »Was mir an Achtenhagens Aktion missfiel, war der Umstand, dass sie den Gedanken an einen rächenden weiblichen Engel heraufbeschwor, der durch die Straßen von Hamburg schleicht und nach männlichen Opfern Ausschau hält. Das mag zutreffen, allerdings haben wir nur eine einzige Zeugenaussage darüber, dass eines der Opfer kurz vor seinem ermittelten Todeszeitpunkt in Gesellschaft einer mehr oder weniger jungen blonden Prostituierten beobachtet wurde. Sonst könnte genauso gut ein Mann die Morde begangen haben. Die Präzision und die Methode, wie die Kehle durchbohrt wurde, könnten jedenfalls auf eine Ausbildung beim Militär oder sogar bei einer Spezialeinheit hindeuten. Achtenhagen schaffte es jedoch, der Öffentlichkeit das Bild von einer auf Rache sinnenden weiblichen Kultfigur vorzugaukeln.«
»Ich weiß nicht...« Werner verzog das Gesicht. »Die Sache mit der Kastration. Einen Mann zu töten ist eine Sache ... aber ihm den Pimmel abzuschneiden? Ich würde darauf wetten, dass es eine Frau war ...«
»Schon gut, bleibt ruhig«, sagte Fabel, um das aufkommende Gelächter niederzuschlagen. »Wie erwähnt, kommt es auch mir wahrscheinlicher vor, dass der Engel eine Prostituierte war. Nach den ursprünglichen Akten zu schließen, wurde der Engel verdächtigt, eine Serienmörderin nach Art der Amerikanerin Aileen Wuornos zu sein. Eine als Kind missbrauchte Frau wird Prostituierte und führt Rachemorde an ihren Freiern durch. Aber ob es sich nun um einen Mann oder eine Frau handelte -und unabhängig von den Motiven —, in jedem Fall achtete der sogenannte Engel akribisch darauf, keine forensischen Spuren zu hinterlassen und keinen Hinweis auf seine Identität zu liefern. Deshalb habe ich große Zweifel daran, dass der Engel gegenüber Westland seine Identität preisgegeben hat, um seine Wiederauferstehung bekannt zu machen. Damit komme ich zu dem für uns wohl wahrscheinlichsten Gesichtspunkt...«
Fabel schlug neben dem Wort NACHAHMUNG mit der flachen Hand an die Tafel.
»Der Engel von St. Pauli existiert als Begriff, wenn auch vielleicht nicht als Realität. Als mächtige Vorstellung, die möglicherweise mehr bewirkt hat, als nur die allgemeine Fantasie zu beflügeln. Es könnte durchaus sein, dass Westlands Ermordung zwar nicht durch den Engel ausgeführt, aber durch ihn inspiriert worden ist. Es gibt grundlegende Unterschiede zwischen dem aktuellen Fall und den früheren Taten. Die Mörderin hat zum Beispiel auf Kastration nach dem Tod oder auf die Mitnahme einer Trophäe verzichtet.«
»Das könnte einfach daran liegen, dass sie gestört wurde«, gab Werner zu bedenken. »Christa Eisel hat Westland noch lebend vorgefunden, aber er blutete rasch aus, und wenn sie keinen Druck auf die Wunde ausgeübt hätte, wäre der Unfallwagen zu spät eingetroffen. Vielleicht hatte die Mörderin gehört, wie Christa herankam.«
»Mag sein, aber eine panische Flucht passt nicht dazu, dass niemand beim Verlassen des Tatorts beobachtet worden ist. Carsten Kaminskis Leute von der Davidwache haben mit fast jedem Mädchen gesprochen, das in der betreffenden Nacht auf dem Kiez gearbeitet hat. Und vergesst nicht, dass die meisten die Straßen von ihrem Schaufenster aus im Auge haben. Normalerweise löst jede unbekannte Frau, die die Straße durchquert, Unruhe aus. Unser Problem ist jedoch, dass es durch den lautstarken feministischen Protest, der gleichzeitig stattfand, ein außergewöhnlicher Abend auf dem Kiez war. Aber vor dem Eindringen der Protestlerinnen in die Herbertstraße hat niemand eine dort herumlaufende unbekannte Frau bemerkt.
Außerdem ist sich Christa Eisel sicher, niemanden auf dem Platz oder in seiner Nähe gesehen zu haben. Nehmen wir einmal an, dass die Mörderin gestört wurde ... Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie Westlands Bauch aufgeschlitzt hat, statt ihm die Kehle durchzuschneiden. Und Westland war zu Fuß unterwegs, während die früheren Opfer in ihren Autos saßen. Auch sollten wir daran denken, dass seit dem letzten Engel-Mord fast ein ganzes Jahrzehnt vergangen ist. Andererseits gibt es bestimmte Ähnlichkeiten, besonders die geschickte Verwendung eines Messers. Wie auch immer, vorläufig bleibe ich bei meiner Meinung, dass es eine Nachahmungstat war.«
Fabel ließ ein großes Foto aus dem Ordner auf seinem
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