Jan Fabel 05 - Walküre
Norden der Willy-Brandt-Straße neben dem Kontorhausviertel. Es war nagelneu und bot eine vortreffliche Aussicht auf die Speicherstadt, und da man es in der Nähe von Backsteinsymbolen wie dem Chilehaus und dem Sprinkenhof errichtet hatte, war es als moderne, doch einfühlsame Entsprechung zu einem traditionellen Kontorhaus entworfen worden - mit einem riesigen Atrium. Claasens hatte seine Büroräume termingerecht hierher verlagert, um dann feststellen zu müssen, dass die Bauarbeiter noch dabei waren, Dutzende von Details abzuschließen. Eines davon war die Balustrade um das Atrium in seinem Stockwerk gewesen. Deshalb hatte er eine weitere Woche warten müssen, bis er sein Personal in den Räumen unterbringen durfte. Sogar jetzt hatte das Geländer noch eine Lücke, weshalb der Bereich gesperrt war und seine Mitarbeiter häufig lange Umwege durch das Gebäude zurücklegen mussten, um benachbarte Büros zu erreichen.
Claasens schob das Gummiband zurück, das den Ordner zusammenhielt. Darin hatte er Lenschs Papiere zusammen mit den Dokumenten abgelegt, die die Diskrepanz zu den Lieferungen aufwiesen. Die wichtigsten Abschnitte hatte er mit gelben Aufklebern gekennzeichnet.
Er warf einen Blick auf sein Handgelenk. Es war 17 Uhr. Das übrige Personal würde bald Feierabend machen, und Emily würde anrufen, um sich zu überzeugen, dass die Luft rein war. Emily ließ seine Probleme verschwinden: all den Stress, all den Ärger. Wenn er mit ihr zusammen war, wurde er ein anderer Mensch. Ein besserer Mensch. Er lächelte bei dem Gedanken an ihren Anruf; an ihr niedliches, ungrammatisches Deutsch und ihren entzückenden englischen Akzent. Emily würde hinauf in sein Büro kommen, und sie würden allein sein. Aber vorher musste er die Zahlen noch einmal überprüfen. Nur für den Fall, dass der Norweger recht hatte.
Es war genauso, als hätte er seine Schlüssel verloren und als kehrte er immer wieder dorthin zurück, wo er meinte, sie abgelegt zu haben. Claasens musterte die Seite, als könnte seine Aufmerksamkeit die Worte und Zahlen wieder in ihren früheren Zustand zurückbringen. Er wusste ganz genau, dass er die Abweichungen gesehen hatte, aber nun waren sie nirgendwo mehr zu entdecken. Und auch die Papiere von Lensch und die gelben Klebezettel fehlten. Wahnsinn. Er drehte den dicken Ordner um und betrachtete die Innenseite des hinteren Deckels, als würden sich die Papiere dort verbergen.
Er versuchte, den Lärm der Arbeiter auszublenden, und konzentrierte sich auf den Ordner. Ob er den Verstand verloren hatte? Alle Einträge passten zusammen. Es gab keine Abweichungen.
Was zur Hölle ging hier vor?
Sein Handy klingelte, und er wusste, dass es Emily war.
Zweites Kapitel
1.
»Anna«, fragte Werner vorsichtig. »Nichts für ungut ... aber hast du gerade gefurzt?« Er drückte auf den Knopf, und das Seitenfenster des Polos glitt hinunter. Sie parkten auf dem Kiez, am Ende der Silbersackstraße in Richtung Reeperbahn. Hier war die Fahrbahn schmal und dunkel.
»Mach das Fenster zu, Opa«, sagte Anna. »Es ist eiskalt da draußen.«
»Ich lasse es lieber auf eine Erkältung ankommen.«
»Du weißt ja, wer es hat zuerst gerochen ...« Anna lächelte unschuldig.
»Manchmal benimmst du dich nicht gerade damenhaft.« Werner schloss das Fenster, ließ jedoch oben eine kleine Lücke frei.
»Na, du sorgst für den Ausgleich. Du erinnerst mich an meine Tante Rachel. Allerdings hast du weniger Haare im Gesicht. Wie spät ist es?«
»Zwanzig Minuten nach Mitternacht.«
»Ich langweile mich. Es ist höllisch stumpfsinnig hier.«
»Das gehört zu unserem Beruf. Ich dachte, dass du dich inzwischen daran gewöhnt hast.«
»Wieso sind wir mit einem Mal Partner geworden?«, fragte Anna. »Meint Lord Gentleman etwa, dass er mich so an der Kandare halten kann, bis er mich an jemand anderen loswird?«
»Lord Gentleman?« Werner drehte ihr den Kopf zu.
»Du weißt schon, Fabel, der »englische Kommissar«. Woher zum Teufel kommt all die Anglophilie bloß? Schließlich ist er doch Friese, verflucht noch mal.«
»Seine Mutter ist Schottin«, erklärte Werner. »Und er ist dort eine Zeit lang zur Schule gegangen. Allerdings könntest du dich ruhig mal ein bisschen damenhafter ausdrücken.«
»Ein halber Schotte und ein halber Friese ... Kein Wunder, dass er nie eine Runde ausgibt. Jedenfalls nehme ich an, dass dies hier sein Einfall war.«
»Eigentlich nicht. Es war meiner.«
»Was? Oh,
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