Jan Fabel 05 - Walküre
Zufahrt vor dem Haus. Die Zufahrt war freigeschaufelt worden, und der Schnee häufte sich auf beiden Seiten zu einem hohen Damm. Birta ging rückwärts auf das Haus zu und verwischte dabei ihre Fußspuren, bis sie eine niedrige Stelle im Schneewall fand. Sie sprang über ihn hinweg auf die Auffahrt. Nun würde sie keine deutlichen Spuren mehr hinterlassen. Bevor sie sich dem Haus näherte, nahm sie das Gewehr von der Schulter, entrollte das Zelttuch und breitete die Teile darauf aus, um die Waffe zusammenzusetzen.
»Was zum Teufel machen Sie da?«, rief eine männliche Stimme hinter ihr. Alles geschah in einer einzigen Bewegung: Sie sprang auf, drehte sich um, öffnete das Messerfutteral und trieb die Klinge unter dem Brustbein in seinen Körper. Dabei setzte sie bewusst zusätzliche Kraft ein, um den schweren Parka des Mannes und die Kleidungsschichten darunter zu durchbohren. Er reagierte nicht, denn das Messer war durch die das Licht resorbierende graue Polycarbonatoberfläche und die Geschwindigkeit ihres Stoßes in der Dunkelheit vermutlich unsichtbar für ihn gewesen. Mit derselben fortlaufenden Bewegung drehte Birta die Klinge. Seine Augen waren aufgerissen, und sein Mund klaffte wie vor Empörung oder Verwirrung auf, bevor er auf die Knie sank. Birta trat zur Seite, sodass er sich nach vorn neigte und aufs Gesicht fiel. Sie drehte ihn um und stellte innerhalb einer Sekunde zwei Tatsachen fest: Er war tot, und er war nicht ihre Zielperson. Der Tote mochte Ende vierzig sein. Die Kleidungsschichten erschwerten die Einschätzung, aber er sah stämmig aus. Sie öffnete seinen Parka und spürte die Wärme eines Körpers, der keine eigene Temperatur mehr erzeugen würde. Da der Mann unbewaffnet war, konnte er kein Leibwächter oder Polizist sein. Er hatte eine große Schneeschaufel bei sich getragen, und Birta vermutete, dass er eine Hilfskraft oder ein Gärtner gewesen war. Warum war sie bei ihren Nachforschungen nicht auf ihn gestoßen? Sie verfluchte sich und wischte die Klinge an der Schulter seines Parkas ab. Gleichzeitig musterte sie die Zufahrt in ihrer ganzen Länge und die Ränder des Waldes. Birta steckte das Messer zurück ins Futteral, öffnete den Reißverschluss ihres Parkas und zog ihre mit einem Schalldämpfer ausgestattete Automatik aus dem Halfter. Niemand sonst war zu sehen.
Nach einem weiteren Blick auf den Wald und den Schneewall, der die Zufahrt säumte, wählte sie eine Stelle zwischen den Bäumen und zerrte den Toten durch den Schnee hinüber.
Wieder auf der Zufahrt, hob sie das noch nicht am Gewehr angebrachte Zielfernrohr auf und richtete es auf die großen, hellen Fensterquadrate des Hauses. Sie wusste, wo das Arbeitszimmer ihrer Zielperson war und dass er sich dort bis etwa 21 Uhr aufhalten würde. Die Fensterläden waren nicht geschlossen worden, und sie konnte das gesamte Zimmer einsehen. Keine Zielperson. Sie widmete sich den anderen erhellten Zimmern. Nichts. Das war schlecht. Sie verspürte eine vage Panik in der Brust und setzte, wie ihr beigebracht worden war, ihre Willenskraft ein, um das Gefühl zu unterdrücken. Wenn man Angst hatte oder unter Stress stand, ging leicht etwas schief. Dann misslang das Treffen, oder jemand wurde aufmerksam, während man sich entfernte. Ruhig. Bleib ruhig.
Birta musterte die Zufahrt erneut. Nichts. Sie blieb regungslos stehen, hielt den Atem an und nahm die Geräusche der Nacht und des Waldes in sich auf. Wieder fluchte sie, denn sie würde die forensische Distanz verringern müssen. Es war eine einfache Regel: Je größer die Distanz, desto geringer war die Chance, entdeckt und abgefangen zu werden. Beim Einsatz des Scharfschützengewehrs etwa bildete die Kugel, die möglicherweise Holz oder Glas und dann Fleisch und Knochen durchbohrte, bevor sie in einem Ziegel stecken blieb oder vom Mauerwerk deformiert wurde, die einzige forensische Verbindung zwischen ihr selbst und der toten Zielperson. Mit der Distanz vergrößerte sich die Chance, ungesehen davonzukommen.
Aber wenn sich die Zielperson nicht zeigte, konnte Birta das Gewehr nicht einsetzen. Natürlich war es möglich, dass er sich einfach nur in der Küche ein Sandwich machte, doch da sie sich um eine sekundäre Zielperson hatte kümmern müssen, stand sie unter Zeitdruck. Wäre sie nicht von der Hilfskraft entdeckt worden, hätte sie eine Stunde oder vielleicht länger auf das Auftauchen der Zielperson gewartet. Nun aber würde sie sich dem Haus
Weitere Kostenlose Bücher