Jan Fabel 05 - Walküre
nähern und es möglicherweise sogar betreten müssen. Und das bedeutete die Aufgabe der forensischen Distanz.
Birta verstaute das Gewehr in seinem Behälter, zog ihre Handfeuerwaffe aus dem Halfter und schlich auf das Haus zu.
2.
Anna Wolff hatte drei Abende darauf verwendet, den trunkenen Schritten von Armin Lensch nachzuspüren. Dabei hatte sie über die Situation nachgedacht, in die sie durch ihre eigene Schuld geraten war. Seit Fabel sie für sein Team ausgewählt hatte, war sie an der Aufklärung von siebzehn Mordfällen beteiligt gewesen. Siebzehn Morde aus so banalen Gründen wie alkoholbedingter Wut oder sexueller Eifersucht.
Und einige, wie die letzten, waren aus so perversen und unerfindlichen Motiven begangen worden, dass sie die dafür verantwortlichen Geister, solange sie auch noch in der Mordkommission arbeiten mochte, nie würde verstehen können. Im Gegensatz zu Fabel. Es war ein gruseliger Gedanke, dass er die Motive dieser Menschen nachvollziehen konnte. Vielleicht hatte er doch recht mit seiner Vermutung, dass sie sich nicht für die Mitarbeit in der Mordkommission eignete.
Anna wollte es immer noch nicht in den Kopf, dass der Mann, dem sie das Knie in die Weichteile gerammt hatte, mittlerweile tot war. Irgendwie hatte sie das Gefühl, zu seinem Tod beigetragen zu haben. Vielleicht traf das ja auch zu. Von seinen Freunden hatte sie schließlich erfahren, dass er von ihnen wegen seiner Begegnung mit ihr veralbert worden war und sich allein davongemacht hatte. Und dann war er von jemandem ermordet worden: das letzte Element in einer Folge von Ereignissen, die sie möglicherweise in Bewegung gesetzt hatte. Eine unbehagliche Vorstellung.
»Wohin wollen Sie jetzt, Frau Kommissarin?«, fragte Theo.
Sie wandte sich zu ihm um. Theo Wangler war der Schutzpolizist von der Davidwache, der den Auftrag hatte, sie bei ihrem Gang durch die Bars und Clubs zu begleiten. Die Uniform stand ihm gut: Wangler war zwei Meter groß und trainierte offensichtlich mit Gewichten. Er hatte breite, kräftige Kiefer, und wenn er seine Mütze abnahm, um sich das Haar mit den Fingern zurückzustreichen, konnte sie nicht übersehen, dass es dicht, dunkel und gewellt war. Menschen, die so gut wie er aussahen, waren gewöhnlich nicht zu ertragen. Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte Anna beschlossen, dass sie ihn nicht leiden konnte, aber eine schnelle Nummer mit ihm nicht ausschließen würde. Aber wie sich zeigte, hatte ihr erster Eindruck sie getrogen, denn Wangler war ein stiller, fast schüchterner Typ. Doch während sie eine Bar nach der anderen aufsuchten, hatte sie ein ruhiges Selbstbewusstsein an ihm bemerkt, durch das die Aufsässigen in Schach gehalten wurden. Gleichzeitig war er unaggressiv genug, um alle außer den größten Polizistenhassern zur Vernunft bringen zu können. Dies war, wie sie zugeben musste, das ideale Temperament für einen Polizeibeamten. Ein Temperament, das sie selbst nicht besaß. Anna beschloss erneut, dass sie Wangler nicht leiden konnte.
Die Reeperbahn war lang und breit und gerade. Deshalb hatte sie sich besonders gut zum Drehen der Schiffstaue - oder »Reepe«, wie sie auf Niederdeutsch hießen - geeignet, die ihr ihren Namen eingetragen hatten. Tagsüber sah sie trübe und billig aus, doch nachts wurde sie zu einer der am stärksten beleuchteten Straßen Deutschlands. Aber während die beiden Beamten um 22.30 Uhr die Reeperbahn entlanggingen, hatte ihr Neonglitzern etwas zutiefst Deprimierendes an sich. Eine gezwungene, fieberhafte Fröhlichkeit. Anna und Wangler hatten zahlreiche schäbige Bars aufgesucht, ohne irgendetwas vom Personal zu erfahren. Hauptsächlich hatten sie mit den Türstehern gesprochen, von denen die meisten, wie die Barkeeper und Kellnerinnen, Wangler mit einem freundlichen Händedruck oder wenigstens mit einem anerkennenden Nicken begrüßten.
»Ich arbeite seit vier Jahren hier«, erklärte Wangler, während sie durch die Sündige Meile schlenderten, vorbei an einem Erotikshop mit einem Schaufenster voll unglaublich proportionierten Sexspielzeugs. »Da lernt man die Leute kennen.«
»Macht es Ihnen Spaß, in diesem Revier tätig zu sein?«, fragte Anna.
»Es ist in Ordnung ... Viele haben eine falsche Vorstellung vom Kiez. Wohl von früher. Sogar Oberrat Kaminski. Er ist hier in den alten Tagen Streifenpolizist gewesen, und ich glaube manchmal, er meint, dass alles vor die Hunde geht, weil die Bordelle
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