Jan Fabel 05 - Walküre
völlig andere Übung als die Darstellung eines Falles auf einer Schautafel. Sie hatte nichts mit den Bemühungen des Teams zu tun, sondern diente zur Veranschaulichung seiner Denkprozesse. Diese leeren Seiten würden sich mit Namen, Zeiten und Orten füllen, die nach und nach alle durch ein Netz von Linien miteinander verbunden wurden. Neben ihnen würden Sätze, Texte von Zeitungsausschnitten und Zitate aus verschiedenen Aussagen stehen. Dazu Ideen: widerliche, finstere Ideen. Einmal, bei der Untersuchung einer Mordserie, war Fabel auf das Notizbuch des Täters gestoßen: zwanghaft sauber, doch mit verworrenen Verbindungsfäden; Wörter waren unterstrichen, durchgestrichen, von einem Kreis umgeben und mit dreifachen Fragezeichen versehen worden. Es hatte Fabel bis ins Mark frösteln lassen, wie sehr die Methodik des Mörders seiner eigenen ähnelte.
Fabel schrieb mit einem Filzstift den Namen ENGEL mit Blockbuchstaben an den Kopf der Seite und setzte drei Fragezeichen dahinter. Dann notierte er, einander gegenüber, die Namen der beiden Opfer aus St. Pauli. Auf die Fallakten und sein Notizbuch zurückgreifend, brachte er die Schlüsselelemente der Verbrechen zu Papier. Doch dabei drängte sich immer wieder ein anderer Fall in sein Bewusstsein: der des toten dänischen Polizisten. Er versuchte, ihn aus seinen Gedanken zu verbannen, denn es war im Grunde noch gar kein Fall, wiewohl Möller, der Gerichtsmediziner im Butenfeld, widerwillig versprochen hatte, dass die Autopsieergebnisse bis Mittag vorliegen würden. Fabel dachte an Karin Vestergaard und erinnerte sich an ihre Schönheit, ohne sich jedoch an ihre Gesichtszüge entsinnen zu können.
Seine Überlegungen wurden durch das Erscheinen von Anna Wolff und Werner in seinem Büro unterbrochen. Er klappte den Skizzenblock zu, ließ ihn wieder in der Schreibtischschublade verschwinden und forderte Anna und Werner auf, Platz zu nehmen.
»Okay«, sagte er. »Wie ist der Stand?«
»Ich habe mit Viola Dahlkes Mann gesprochen«, berichtete Werner. »Es war schwierig. Netter Kerl, gewöhnliche Familie. Hatte keine Ahnung, dass seine Frau ein geheimes Leben führt.«
»Ich hoffe, du hast ihn nicht über die Einzelheiten dieses Lebens aufgeklärt?«
Werner runzelte die Stirn. »Das darfst du mir schon zutrauen. Aber sie ist ihm einige Erklärungen schuldig. Jedenfalls bestätigt ihr Mann, dass sie am Abend von Westlands Ermordung zu Hause war. Damit können wir sie wohl entlassen.«
»Ein vom Ehegatten geliefertes Alibi reicht, für sich genommen, noch nicht«, erklärte Fabel. »Aber wir haben nicht genug in der Hand, um ihre Haft zu verlängern. Außerdem bin ich überzeugt, dass die beiden St.-Pauli-Morde von derselben Person verübt wurden, und wir wissen mit Sicherheit, dass Viola Dahlke den zweiten nicht begangen haben kann.«
»Ich habe alle Taxifahrer überprüft, die in der Nacht von Lenschs Ermordung in St. Pauli gearbeitet haben. Drei davon waren Frauen. Keine nahm ihn mit oder erinnert sich, ihn an einem Taxistand oder beim Anhalten eines Taxis bemerkt zu haben. Also dürfte unsere Täterin die Frau in dem Mercedes gewesen sein.«
»Man könnte glauben, sie hätte es auf Lensch oder jemanden wie ihn abgesehen gehabt«, sagte Fabel.
»Aber das ergibt keinen Sinn«, meinte Anna. »Ihre Wahl der Opfer ist bis jetzt ganz unterschiedlich. Westland war eine Berühmtheit, Ausländer und in den Fünfzigern. Lensch war ein Niemand, ein deutscher Staatsbürger und neunundzwanzig Jahre alt. Ihre einzigen Gemeinsamkeiten dürften gewesen sein, dass beide Männer waren und sich zufällig auf dem Kiez aufhielten.«
»Vielleicht genügte ihr das schon. Aber die Sache mit dem Taxi ist sonderbar. Kaum jemand, der nicht im Taxigeschäft ist, besitzt ein Auto in dieser Farbe, schon gar nicht einen Mercedes der E-Klasse. Dies ist eine sehr gezielt vorgehende Mörderin. Warum macht sie sich all die Mühe, um dann ein beliebiges Opfer auszusuchen?« Fabel schüttelte den Kopf. »Was ist mit den CCTVs - irgendein Ergebnis?«
»Bis jetzt nicht. Ich habe den knackigen Schutzpolizisten von der Davidwache beauftragt, alles durchzusehen.«
»Warum?«, fragte Fabel. »Solltest du dich nicht selbst darum kümmern?«
»Wirklich, ich drücke mich nicht. Aber Wangler arbeitet schon seit vier Jahren in dem Revier. Er kennt jeden Zentimeter davon und weiß genau, wo jede Kamera ist. Der Mercedes muss irgendwo beim Herein- oder
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