Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jan Tabak geht aufs Ganze

Jan Tabak geht aufs Ganze

Titel: Jan Tabak geht aufs Ganze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schrader
Vom Netzwerk:
klaffte ja hinter ihm ein Abgrund.
    Berta wieherte also nur und schüttelte die Mähne.
    Da rutschte Nicole aus der Bank und hielt ihr eine Handvoll Zucker hin. Sauer macht lustig, dachte sie, vielleicht macht Süßes sanft. Tatsächlich zerknackte Berta sofort die Zuckerstücke und achtete nicht mehr auf Jan, der an ihr vorbeischlüpfte und prüfte, ob er sie nicht besser von hinten an die frische Winterluft schaffen könnte. Probeweise zog er sie ein bißchen am Schwanz. Das nahm Berta jedoch nicht zur Kenntnis. Sie wandte ihre gesamte Aufmerksamkeit dem Zucker in Nicoles Hand und ein wenig auch dem prächtigen Tannenbaum zu. Das zarte Zupfen an ihrem rückwärtigen Schmuckstück drang nicht in ihr Bewußtsein. Da zog Jan herzhafter, und das fiel ihr auf.
    Sie sah sich um, staunte, zermahlte das letzte Stück Zucker in ihrem Maul zu Brei, legte die Ohren an und wartete, gewissermaßen Gewehr bei Fuß, was weiter geschehen würde.
    „Komm“, flüsterte Jan eindringlich, „nun komm schon!“ Er stemmte sich gegen eine der Bänke, um einen festen Stand zu haben, und versuchte nun das Tier hinauszuziehen, als wäre es ein Holzpferd auf Rädern. Das war Berta aber keineswegs, und sie bewies es, indem sie ebenfalls zu ziehen anfing, aber natürlich in die andere Richtung. Hier Zug, da Gegenzug.
    Ein paar Sekunden lang hielten sich die Kräfte im Gleichgewicht, aber dann zeigte sich, daß Pferde bessere Zugtiere sind als alte Männer. Jan mußte dem kleinen Biest folgen, Schrittchen um Schrittchen, sosehr er auch mit den Füßen zu bremsen versuchte. Dabei knirschte er fast so laut mit den Zähnen wie der Sand unter seinen Schuhsohlen. Die meisten Gläubigen lächelten über diesen ungewöhnlichen Zweikampf, obwohl er an einem Ort ausgetragen wurde, der dafür nicht vorgesehen war. Viele ergriffen Partei für das kleine Pferd. Nur vorn in der ersten Reihe stand ein junger Mann auf und stellte sich dem Tier mutig in den Weg.
    Und das war genau das Verkehrte!
    Denn hier, wo zwischen Kirchenbänken und Altarstufe ein freier Raum war, hätte Berta sich drehen und mit dem Kopf voran den Rückweg antreten können. So wurde sie daran gehindert. Sie verhielt den Schritt und warf ein fragendes Auge auf den Mann vor ihr. Gleichzeitig keilte sie einmal nach hinten aus, weil Jan dort jetzt seine Anstrengungen verdoppelte. In diesem Moment klatschte der Unerschrockene vor ihr in die Hände und sprang mit einem schrillen Schrei auf sie zu. Das erschreckte sie tödlich. Sie riß die Vorderbeine hoch, tänzelte ein paar Schritte auf den Hinterbeinen wie ein dressierter Hund, drehte sich dann und raste über Jan Tabak hinweg auf die Tür zu, krachte dagegen, brach durch und fegte hinaus ins Freie. Man hörte ihr Hufgetrappel vor der Kirche, dann einen Sprung und dann gar nichts mehr. Sie war über die Mauer gesetzt und hatte sich in Schnee und Dunkelheit verloren.
    Die Gemeinde atmete auf, der Gottesdienst konnte weitergehen. Pastor Schulz sah lächelnd auf die Gläubigen hinunter und sagte: „Als unser Heiland geboren wurde, standen Ochs und Esel an der Krippe. Wir wollen es darum dem kleinen Pferd nicht verübeln, daß es ebenfalls an der Feier teilnehmen wollte.“ Und er fuhr fort mit der Verlesung der Weihnachtsgeschichte.
    Jan Tabak hatte jedoch nicht mehr die nötige Ruhe dafür. Er sorgte sich um das Pferd, das allein war in Kälte und Nacht und sich vielleicht verirrte. Darum flüsterte er Nicole ins Ohr: „Ich sehe mal nach Berta, bleibt ihr nur sitzen!“ und ging auf Zehenspitzen hinaus.
    „Was hat er vor?“ fragte Tim.
    „Nach Berta sehen.“
    „Allein?“
    „Ja!“
    „Dann kriegt er sie nie.“
    „Sei still jetzt!“
    „Die haut ihm ab!“
    „Pst, der Pastor guckt schon her!“
    „Ich geh ihm nach“, sagte Tim und schlüpfte schon aus der Bank. „Wo will der Junge denn hin?“ fragte Oma Jenny.
    „Onkel Jan beim Einfangen von Berta helfen.“
    Jenny blickte wieder nach vorn und lauschte der Weihnachtsgeschichte, aber zwischendrein bat sie den lieben Gott, er möchte das Pferd nicht gar so weit weglaufen lassen, damit es nach dem Gottesdienst den Schlitten wieder ziehen könnte, denn zu Fuß wollte ihr der Rückweg doch recht beschwerlich erscheinen. Dann gab sie sich andächtig der stimmungsvollen Feier hin.
    Eine halbe Stunde später tappte sie zwischen den anderen Gläubigen ins Freie. Dort war es so dunkel wie in einem Raum ohne Fenster.
    „Vorsicht, Nicole!“ rief sie. „Damit du nicht fällst, mein

Weitere Kostenlose Bücher