Jan Weiler Antonio im Wunderland
seine Frau Barbara sowie deren Sohn Antonio dabei. Dessen Schwester Ilaria hingegen fährt bei Supermarkt-Paolo, seiner Frau Pamela und Baby Primo mit. Marcos Freundin hat kurzfristig abgesagt, und zwar offenbar nicht nur den Urlaub, sondern auch ihre Beziehung mit Marco. Bevor wir losfuhren, gab es noch ein längeres Telefonat, dann hockte sich Marco in unser Auto und begann, eine SMS von alttestamentarischen Ausmaßen zu schreiben.
Wir halten nur zweimal. Der erste Stopp dient dem Einkauf von ungefähr einem Zentner Tomaten, weil Nonna Anna Sauce kochen will. Die Tomaten werden über alle Autos verteilt, ich finde noch ein Plätzchen im Handschuhfach. Beim zweiten Halt muss Primo gestillt werden, was von allen Frauen beobachtet und kommentiert wird. Die Männer stehen rum und rauchen. Nach zweieinhalb Stunden haben wir unser Ziel erreicht: das Ferienhaus. Erbaut im frühsozialistischen Stil mit unverputzter und auf diese Weise enorm proletarischer Fassade, an der ein langer Balkon klebt, der jederzeit abfallen könnte. Dieses Haus kenne ich noch nicht. Bisher haben wir immer woanders gewohnt.
Ich trage unser Gepäck, das der Nonna, das meiner Schwie-94
gereltern und unter dem Gelächter der gerade Genannten meine Matratze ins Haus. Dies hat wie die meisten Ferienhäuser, die ich in Italien kennen gelernt habe, kein richtiges Wohnzimmer, aber eine Küche. In dieser hier steht ein wahrhaft monströses Buffet, das antiker aussieht, als es vermutlich ist. Wir werden darin alles finden, was ein italienischer Haushalt braucht: Wäscheleinen, Kerzen mit Papstbildern, Batterien, die nirgendwo hineinpassen, eine Tischdecke aus Kunststoff, einen Abreißkalender von 1993, ein Foto von einer unbekannten Person, die vor einer unbekannten Kirche steht, und eine Espressokanne. In mir steigt Panik auf, denn die schmale Ausrüstung deutet auf zweierlei hin. Erstens ist hier eingebrochen worden, denn es gibt nicht einmal mehr verbogenes Besteck, das sonst zwingend in italienischen Ferienhäusern vorkommt. Womöglich ist der Raub nicht lange her, und das bedeutet, dass die Diebe in Kürze zurückkehren und uns, mich!, ausplündern. Und zweitens muss jetzt impro-visiert werden. Ich fürchte dies weit mehr als den Diebstahl meiner Matratze, denn Improvisation bedeutet Chaos, und Chaos bedeutet Antonio. Passend dazu übrigens auch der Spitzname meines Schwiegervaters. Antonio wird seit ewigen Zeiten in seiner Familie nur Toni Casinista genannt. Das Wort casinista bedeutet im Italienischen gleichzeitig Stimmungs-kanone und Chaot. Eigentlich toll! Aber nur, wenn man das im Fernsehen sieht.
Raffaele, Marco, eine der Marias und Gianluca nebst beiden Kindern (die nur mitgehen, damit sie den Kauf von Sü-
ßigkeiten günstig für sich beeinflussen können) fahren zum Supermarkt, um einzukaufen. Antonio beginnt damit, das Haus wohnlicher zu machen, indem er sämtliche Möbel – so!
Und so! Und so! – umstellt. Ich darf ihm dabei helfen. Sein innenarchitektonisches Schaffen führt zu vereinzelten Schä-
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den an Sesseln, Betten und Regalen und offenbart gewaltige Wollmäuse und andere Schmutze, die zu beseitigen er bei seiner Frau in Auftrag gibt. Dann parkt er unsere Autos um. Alle sollen auf dem kleinen Grundstück Platz haben, was auch gelingt. Wir werden dann eben nicht im Garten sitzen können.
Wenn wir nach draußen möchten, setzen wir uns zu siebzehnt auf den Balkon, nebeneinander, weil er ein wenig schmal ist.
Was soll's, dafür können die Autos nicht auch noch geklaut werden, Antonio hat sie mit einer Wäscheleine eingepfercht.
Mein Vorschlag, eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten, wird unter allgemeinem Kopfschütteln abgelehnt. Marco er-klärt mir, dass das hier erstens nicht unser Haus sei, die Sache also uns nichts anginge, und man zweitens nicht auch noch darauf aufmerksam machen wolle, dass es jetzt noch Gepäck im Haus zu holen gibt.
Am Abend ist das Ungemach längst vergessen. Wir trinken Rotwein mit Pfirsichen, spielen Karten und ducken uns, wenn Onkel Raffaele anfängt zu singen. Er kann auch «Lili Mar-leen», jedenfalls die Melodie, die er mit einem nach Deutsch klingenden Phantasietext 1 versieht und extra für mich immer wieder vorträgt. Die Frauen – auch meine – quasseln durcheinander und lachen auf Kosten der Männer. Ich bin der Einzige, der hier Bier trinkt, es wurde ja schließlich extra für mich gekauft. Mit meiner Flasche ziehe ich mich auf den Balkon zurück und sehe in die Sterne. Es
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