Jane Reloaded - Roman
verstanden. Sie guckt neidisch, alles an ihr verkörpert die Frage: »Willst du sagen, ich bin hässlich?«
»Nein«, beschwichtigt Jane, »auf deine südliche Affenart bist du wunderschön. Nicht umsonst werden die Menschen später sagen, du bist die Eva der Urzeit. Und als Botschafterin unserer Ahnen wirst du Weltkarriere machen.« Als Jane auch noch Lucy in the Sky with Diamonds anstimmt, grunzt die kleine Namensvetterin zufrieden.
Lucy schwingt sich hinauf in die Zweige, ihre langen Kletterarme und ihre gebogenen Finger verhindern ein Abrutschen. Sie lässt einen dicken Ast so heftig wippen, dass einige der dicken braunen Hülsenfrüchte herunterpurzeln und auf Jane fallen. Sie lachen, zusammen.
»Eine Gutenachtgeschichte«, bettelt Lucy und deutet auf den Himmel, der sich schon abendrot färbt.
Jane überlegt, ob sie ihr von dem jungen Charles Darwin erzählen soll, der mit zweiundzwanzig Jahren auf einem Schiff zu den Galapagosinseln segelte und dort so viel sah – von den verschiedenen Finkenschnäbeln über die Riesenschildkröten bis zu den Meer- und Landechsen –, was ihm später half, an so etwas wie die Evolution überhaupt zu denken. Denn wenn er das nicht getan hätte, wäre Lucy wohl niemals entdeckt worden, und sie würden hier nicht so einträchtig zusammensitzen. Aber Jane hat zu lange überlegt, die Freundin ist vom Baum gestiegen und hat sich in einer Bodenkuhle schlafen gelegt. Jetzt herrschen nur noch Dunkelheit und Stille.
Lautes Gepolter, als würden Äste brechen und fallen, reißt Jane am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Sie schreckt hoch, es ist schon taghell.
Kasit klopft fest an ihre Tür: »Aufwachen! Sie haben verschlafen, Miss Jane. Die anderen warten auf Sie.«
Hoffentlich Jamie auch, ist Janes erster Gedanke, während sie ruft: »Bin gleich fertig!«
4 IDA, ARDI, LUCY UND JANE I UND II
Lucy gehörte einfach zu unserer Familie. Seit ich denken konnte, hing ein Bild dieser Australopithecus-afarensis- Frau in der Wohnung meiner Großmutter. Es war das allerschönste, da bin ich mir sicher, unter den vielen Bildern, die sich die Menschen von ihr gemacht haben.
Als Kind berührte es mich sehr, weil darauf ein besorgt blickendes Nicht-mehr-Affe-noch-nicht-Mensch-Wesen zu sehen war. Lucy stand allein in einer unendlichen, glühend heißen Savanne unter einem dunkelblauen Himmel. Mein ganzes Mitgefühl galt ihr, denn die Bildunterschrift verriet, dass sie gerade »verzweifelt nach ihrer Tochter« suchte.
Dieses Bild war auch meine erste Lektion in Sachen Klark’scher Familiengeschichte. Ich erfuhr, dass meine Großmutter das Bild von meiner Ururgroßmutter geerbt hatte, der ersten Jane und der ersten Forscherin in unserer Familie.
Eigentlich hieß sie Johanna Schmidt. Geboren wurde sie 1949 als Tochter eines hessischen Bauern aus Messel. Ein braves Mädchen war sie, bis sie mit achtzehn aus der Provinz floh und für einige Monate nach Kalifornien ging. Weil die Hippie-Bewegung sie lockte, diese erste große Jugendbewegung, die über Grenzen hinweg Massen bewegte, die Liebe und Frieden wollte, gewaltfrei und mit Flower-Power. Auch Johanna steckte sich Blumen ins Haar, verstand sich als Hippie und wohnte in einer Landkommune. Sie wusste nicht, was sie einmal werden wollte, aber Englischlernen schadete auf keinen Fall, sie sprach es bald perfekt. In Amerika nannte sie sich Jane, das klang weltoffen und modern und nicht so betulich wie Johanna. Auf den Namen hatte sie weder die Schimpansenforscherin Jane Goodall gebracht, noch hatte Tarzans Jane sie dazu inspiriert. Es war die Schauspielerin Jane Fonda, die sie bewunderte und die damals mit dem Weltraumfilm Barbarella große Erfolge feierte. Die flammenden Reden, die sie kurze Zeit später gegen den Vietnamkrieg hielt, hatten der ersten Jane auch imponiert.
Johanna alias Jane hielt es im großen Amerika nicht lange aus, sie hatte kein Geld mehr und sich in den falschen Jungen verliebt. Etwas unglücklich kam sie zurück und machte ihr Abitur nach. In der Grube Messel veranstaltete sie mit Freunden nun dieselben Hobbit-Picknicks, die sie in amerikanischen Hippie-Kreisen kennengelernt hatte. Man las sich aus dem Kultbuch »Der Herr der Ringe« vor und rauchte dazu Haschisch-Pfeifchen. Doch Jane tauchte an diesem besonderen Ort nicht nur in das Fantasiereich von Mittelerde ab, sondern entdeckte noch eine ganz andere versunkene Welt.
Der abgeschiedene Ort galt als Geheimtipp, auch für Hobby-Paläontologen, seit sich in der Grube
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