Jane Reloaded - Roman
Herbst 2009 Lucy, galt fortan als »der erste Mensch« und schmückte als »Ur-Eva« schon bald zahlreiche Titelblätter.
In dieser Zeit hatte Jane Schmidt ihren Traum von Afrika schon lange ohne Groll begraben. Sie arbeitete im Frankfurter Senckenberg-Museum, wo sie die Sammlung der Messel-Fossilien mitbetreute. So war auch sie zu ihren Wurzeln zurückgekehrt. Und sie hatte 1988 eine Tochter bekommen. Den Vater und ihre große Liebe, den Global-Lehrer Tom Klark, heiratete sie und nahm dessen Nachnamen an. Ihrer Tochter gab sie ebenfalls den Namen Jane, und um Verwechslungen zu vermeiden, wurde das Kind schon früh »Jane zwei« gerufen. Die hatte das immer gehasst, aber keine Wahl gehabt. Woher ihr Rufname ursprünglich kam, war ihr peinlich. Ich heiße nach der Schauspielerin Jane Fonda – das wäre ihr nie über die Lippen gekommen. Sie gab als Namensgeberin immer Jane Goodall an, nach ihr sei sie getauft worden, und jeder glaubte ihr. Denn Jane II war so affenverrückt, wie andere Mädchen pferdeverrückt waren. Sie war auch diejenige in unserer Familie, die sich alle Tarzan-Filme kaufte und alle Tarzan-Bücher verschlang und den Schatz auch an meine Mutter weitervererbte.
Jane II wollte zuerst Tierärztin werden, dann aber studierte sie Biologie, promovierte in diesem Fach und endete als Paläogenetikerin. Um die zweite Jahrtausendwende war eine neue Ära angebrochen, die Genetik revolutionierte alles. Früher mussten sich die Forscher auf die Knochenfunde verlassen und diese, weltweit zusammengesammelt, füllten gerade mal die Ladefläche eines Kleinlasters. Die Wissenschaftler verglichen die Winkel von Beckenknochen und die Lage der Hinterhauptsöffnung am Schädel, in die das Rückenmark mündet, vermaßen Skelette und beurteilten Knochenwülste, um die verschiedenen Homo-Arten zu klassifizieren. Doch viele Forschungen endeten in einer Sackgasse und Stammbäume blieben immer theoretische Gebilde.
Bis plötzlich die Evolutionsgenetiker verkündeten: Hätten wir die DNA aller Urmenschen, könnten wir den Stammbaum der Menschen lückenlos rekonstruieren. Mit Genanalysen konnten sie dem Neandertaler sehr schnell nachweisen, dass er Sex mit dem Homo sapiens gehabt hatte und Nachkommen zeugte. Nur fünf Milligramm gemahlenes Knochenmaterial reichten damals aus, um fossiles Genmaterial in einem Exemplar aufzuspüren. Ein Streit, der Dekaden gedauert hatte, wurde im Jahr 2010 im Labor entschieden, und Jane II war dabei. Sie arbeitete für eine Gruppe von Wissenschaftlern aus dem Zentrum für Evolutionäre Anthropologie, kurz EVA genannt. Die Forscher hatten in der sibirischen Höhle Denisova – das war im Jahr nach Ardis großem öffentlichem Erscheinen – den Fingerknochen eines Mädchens entdeckt. Dieses Mädchen entpuppte sich als Mitglied einer neuen Homo-Art, die unseren Planeten vor etwa 50 000 Jahren noch bewohnt hatte. Aus einem Fingerglied ließ sich natürlich kein Gesicht rekonstruieren, aber organisches Material mit DNA gewinnen, und so fügte Jane II ein viertes und erstmals ganz anderes Bild der Ahnengalerie ihrer Mutter hinzu: ein Genprofil, das ein Künstler mit einem großen X übermalt hatte. Denn als X-Woman hatte die Entdeckung zuerst Aufsehen erregt.
Meine Urgroßmutter, die achtzig Jahre alt wurde und nur ein Jahr vor meiner Geburt starb, war eine eher leise Frau. Sie saß am liebsten im Labor und scheute öffentliche Auftritte, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihrer Tochter, der späteren Jane III. Sie beteiligte sich nie an der zu ihren Lebzeiten heftig geführten ersten Debatte: »Soll man ein Mammut klonen?« Sie berechnete lieber aus Mitochondrien-DNA die Geschwindigkeit und die Folge von Mutationen im Erbgut. Verglich sie zwei Proben, konnte sie genau sagen, wann der letzte gemeinsame Vorfahr zweier Individuen gelebt hatte.
Ein knappes Jahr vor dem Tod der damals 83-jährigen Jane I fuhren die ersten drei Klark-Frauen ein letztes Mal nach Messel. Wie immer hatte meine Ururgroßmutter nachgeschaut, ob ihr Foto noch im Besucherzentrum hing und der Film, der vom Widerstand gegen die Mülldeponie erzählte, weiter gezeigt wurde, auch ob die Vitrine mit den alten Flugblättern ordentlich aussah.
Ihre Enkelin, meine Großmutter Jane III, war bei diesem letzten gemeinsamen Besuch im Jahr 2032 gerade acht Jahre alt. Sie erzählte mir später, dass sie selbst am liebsten im Bohrlochraum gesessen habe, um 47 Millionen Jahre in die Vergangenheit zurückzurasen durch Gesteinsschichten,
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