Jane Reloaded - Roman
und stopft sich das Kissen in den Rücken. Sie greift nach dem Buch mit dem grellen Pappumschlag neben sich auf dem Nachttisch und blättert darin herum.
Auf Seite 57 findet sie eine ihrer angestrichenen Lieblingsstellen: »Wie er so in der Hütte mit untergeschlagenen Beinen auf dem Tisch saß«, liest sie, »bot Tarzan von den Affen, der kleine primitive Mensch, ein Bild, das Pathos und Verheißung zugleich ausstrahlte – eine allegorische Darstellung urzeitlichen Vorwärtstastens durch die schwarze Nacht der Unwissenheit zum Licht der Erfahrung.«
Auch Jamie muss endlich Stück um Stück »die schwarze Nacht der Unwissenheit« verlassen. Mit ihrer Hilfe. Sie muss ihn weiter unterrichten, ihm Global und auch Lesen beibringen. Sie blättert weiter, findet noch andere markierte Sätze: »Tarzan von den Affen hatte die Figur und das Gehirn eines Menschen, doch er war durch seine Erziehung und Umgebung ein Affe.« Und dann geht es weiter mit dieser Wildenromantik, denn der König des Dschungels ist gesegnet »mit der Stärke eines Elefanten, der Gewandtheit eines Affen und dem Mut des Löwen«. Sie klappt das Buch zu und legt es zur Seite.
Auf dem bunten Umschlag, den sie noch nie zuvor so genau betrachtet hat, prangt unter dem papageiengelben Titel »Tarzan bei den Affen« ein unbeholfen gemaltes Bild. Ein junger Mann steht breitbeinig über einem erlegten Löwen und greift in dessen Mähne. Seinen rechten Fuß hat er auf eine Tierpranke gestellt. Der Löwenschweif lugt hinter dem Menschenbein hervor, und auf den ersten Blick könnte er auch zu dem braunhäutigen Jäger gehören, dessen Mund genau wie das Maul des Löwen zum Schrei geöffnet ist. Zwei Dschungelkönige im Duett. Als wolle Tarzan die Grenze zwischen Tier und Mensch hinwegbrüllen, genauso klingt auch sein weltberühmtes »Ahiajaiajaaaaa«, das Jane als Kind so gerne nachgemacht hat. Erst als sie erfahren hatte, dass man Tarzans Schrei im Tonstudio extra für den Film komponiert hatte und er ein eingetragenes Markenzeichen geworden war, hatte der Dschungelruf sie nicht mehr interessiert. Ebenso wenig wie die dümmlichen Tarzan-Filme und veralteten Tarzan-Bücher, die am Ende doch nur den Sieg des weißen Mannes über die Bestien und Schwarzen in immer wilderen Geschichten zelebrierten. Alle diese Sachen hatte ihre Urgroßmutter gesammelt und in eine Kiste gepackt, die irgendwann im Keller ihrer Mutter gelandet war. Die hatte natürlich den kompletten Tarzan samt seiner Jane in die hinterste Ecke verbannt. Dort hatte die kleine zehnjährige Tanja den verstaubten Familienschatz entdeckt, Tarzan zu lesen begonnen und im Keller den Schrei geübt.
Viele solcher Erinnerungen, kleine und große, banale und wichtige Dinge tauchen auf, seit sie im Laos-Labor ist. Jane wundert sich darüber, aber ändern kann sie es nicht. Hier in dieser fremden neuen Umgebung fühlt sie sich viel stärker verbunden mit allen, die ihr vorausgegangen sind. Nicht nur auf dem langen breiten Weg der Evolution, sondern gerade im Kleinen, in der Familie. Von beidem hängt ab, wie sie wurde, was sie heute ist. Warum sie überhaupt hier ist.
Solche Gedanken kreisen in Janes Kopf, wenn sie auf dem Rücken unter dem weißen, engmaschigen Himmel liegt. Sie muss noch einmal an das Dschungelpaar denken, dessen berühmter Satz »Ich, Tarzan, du, Jane« ebenfalls eine Filmerfindung ist. In über hundertfünfzig Jahren sind die zwei – nicht zuletzt wegen dieser vier Worte – zu Kultfiguren geworden, unauslöschlich eingebrannt in das kulturelle globale Gedächtnis unserer Zeit. Tarzan und Jane gehören zusammen wie Tag und Nacht, Sonne und Mond, Adam und Eva. Bis heute kennt man dieses Paar fast überall auf der Welt, über Länder und Kulturen und Zeiten hinweg. Und hier im Laos-Labor, in dem der wiederauferstandene Homo erectus lebt, begreift Jane nicht nur, sondern fühlt zum ersten Mal, warum. Weil sie Figuren des Dazwischen sind. Ikonen des Zweifels. Grenzwesen, zwischen Gestern und Morgen, vielleicht wie Jamie.
Plötzlich meint sie, ungewohnte dunkle Töne in der Regenwaldmusik auszumachen. Sie lauscht angestrengt in die Nacht. Diese Laute klingen nicht eindeutig tierisch und auch nicht menschlich, aber auf jeden Fall männlich. Könnte das Jamie sein, der ihren Namen ruft? Oder hat das nicht wie adama geklungen? Nein, sie wird nicht hinausgehen und nachschauen. Denn sie weiß, wenn es draußen raschelt und schnarrt, zirpt und schnattert, beflügelt das immer ihre Fantasie und
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