Jane Reloaded - Roman
die Förderung des Ölschiefers nicht mehr lohnte und seine Verarbeitung zu Brennstoffen 1971 gestoppt worden war. In Scharen pilgerten sie dorthin, ohne Genehmigung zwar, aber geduldet. Wo immer jemand grub und vorsichtig mit einem Messer die braunen Gesteinsplatten löste, war Jane zur Stelle und ließ sich alles zeigen und erklären. Sie sah versteinerte Fische und Schlangen, bewunderte fein geäderte Blätter und immer noch schimmernde Insektenflügel. Alle Funde mussten sofort in nasse Tücher gehüllt und mit Zeitungspapier umwickelt oder in konservierende Lösungen eingelegt werden. Denn der Schiefer, der eigentlich wasserhaltiger Ton ist, zerbröselt schnell an der frischen Luft.
In der Grube Messel hatte im Eozän, dem Zeitalter der Morgenröte, wie Eozän übersetzt heißt, eine Vulkanexplosion eine Hohlform in einem Maarsee geschaffen. Hier tummelte sich vor 50 Millionen Jahren eine unglaubliche Menge unterschiedlichster Tiere, auch weil ihre Feinde, die Dinosaurier, bereits ausgestorben waren. An dem entstehenden See sammelten sie sich gerne, manche fielen hinein und starben. Mit Wasser bedeckt und luftdicht abgeschlossen überdauerten sie die Zeit, ganze 47 Millionen Jahre. Die Urzeit war dort wirklich zu greifen, bei jedem neuen Stich.
»So dämlich konnte niemand sein, hier nichts zu finden«, erzählte meine Ururoma später. Und zu wissen, dass man als allererster Mensch ein so altes Fossil in Händen hielt, das sei wie »hundertmal Hautkribbeln beim ersten Kuss«. In vielen Zeitungsinterviews hat meine Ururoma diesen Vergleich gebracht. Sie konnte sehr populär formulieren und deshalb kursierten in unserer Familie auch solche Sprüche von ihr. Bei meiner ersten Begegnung mit Jamie verstand ich endlich, was sie meinte. Denn als ich plötzlich dem neuen Homo erectus gegenübersaß, erging es mir nicht anders.
Jedenfalls verkündete Jane Schmidt im Sommer 1974 ihren verdutzten Eltern, sie werde sich von nun an ganz der Wissenschaft von den Lebewesen vergangener Erdzeitalter verschreiben. Als Paläontologin sei sie doch auch eine Art Bäuerin; sie ernte und pflege eben nur uralte Pflanzen und Tiere. Ihre Eltern beeindruckte die Erklärung, und sie versprachen, die Tochter finanziell weiter zu unterstützen.
So wechselte Johanna Schmidt, genannt Jane, nach dem Studium der Psychologie im Jahre 1974 zur Paläontologie. Es war das Jahr, in dem Lucy aus wissenschaftlicher Sicht das Licht der Welt erblickte. Es hätte also kein passenderes Jahr für ihre Entscheidung geben können und zur Erinnerung hängte sich die Begründerin der Klark-Dynastie das Bild des neuen Stars der Paläoanthropologie an die Wand.
Die als Jahrtausendfund gefeierte Lucy stammte aus dem äthiopischen Afar-Gebiet, der Afar Locality – die Anfangsbuchstaben des Fundortes stehen am Anfang ihrer wissenschaftlicher Katalognummer: A.L. 288 – 1. Die 3,2 Millionen Jahre alte Hominidenfrau, die schon aufrecht ging, blieb lange Zeit der wichtigste Bezugspunkt in der menschlichen Urgeschichte. Alles, was nach ihr kam, musste sich an ihr messen, war entweder »älter als Lucy« oder »vollständiger als Lucy«. Denn von ihr gab es immerhin 47 Einzelknochen, so viele wie nie zuvor für ein Individuum.
Lucy wurde im Laufe der Jahre immer rücksichtsloser vermarktet und Anfang des 21. Jahrhunderts sogar auf eine sechsjährige Tour durch die USA geschickt. Aus Kunststoff nachgebildet, stand die Urfrau in vielen Museen, noch behaart, aber doch schon nackt, mit schrägem Kopf und einem wissenden, durchdringenden Blick. Besucherscharen umringten sie und starrten sie an. Selbst leblos, wie das Modell ja war, berührte die lebensnahe, etwa 1,30 Meter große Paläo-Frau alle, die ihr begegneten. Aber der Unmut gegen ihre Zurschaustellung wuchs: Die echten Knochen waren aus Äthiopien ausgeliehen und mit ausgestellt worden. Würdelos sei das, empfanden Laien ebenso wie Fachleute. Auch Jane Schmidt unterschrieb die Protestbriefe und verteidigte die Forscherlegende Richard Leakey, der in die Fußstapfen seiner Eltern Mary und Louis getreten war. Er hatte überspitzt formuliert: »Das ist eine Form der Prostitution, eine drastische Art der Ausbeutung menschlicher Vorfahren.«
Wie würden er und meine Ururgroßmutter wohl das Laos-Labor bewerten?
Als Jane Schmidt gerade mit ihrem Zweitstudium begonnen hatte, schreckte sie eine ganz andere Nachricht auf. Ein Abfallverwerter habe ihre geliebte Grube gekauft: »In dieser Schatzkammer der Natur wollten
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