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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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sind.
    Lu bewegt sich äußerst geschickt, als er über die feuchten, rutschigen Planken läuft, um die Leinen loszumachen, uns vom benachbarten Boot abzustoßen und sich schließlich hinzusetzen und die Ruder zu nehmen. Ich selbst wäre bei dieser Aktion höchstwahrscheinlich in das brackige, stinkende Wasser gefallen, denn das Boot hat bei jeder Bewegung wie verrückt gewackelt. Er rudert kräftig und gleichmäßig, sodass wir schnell vorwärtskommen.
    Â» Sollte ich mich nicht lieber ducken, mich verstecken? So sieht uns doch ganz Rio. «
    Â» Nein, bleib ruhig so sitzen. «
    Ich schätze, er hat einen Plan. Darauf zu hoffen, dass er ihn mir verrät, ist wahrscheinlich aussichtslos.
    Â» Soll ich auch mal das Rudern übernehmen? « , biete ich an.
    Â» Ha! « , kommt nur von ihm zurück.
    Â» Ich bin darin nicht so ungeschickt, wie du vielleicht glaubst. In der Nähe von meinem Elternhaus rudere ich manchmal. «
    Â» Tatsächlich? « Sein Interesse wirkt echt. Also erzähle ich ihm ein wenig von den Seen, von den ruhigen Sommertagen, die ich auf dem Boot verbracht habe, von meiner Sehnsucht nach der Einsamkeit. » Wenn du irgendwann einmal zu Besuch kommst, werde ich dich rudern, das verspreche ich dir. «
    Â» Ja « , sagt er, » irgendwann einmal. « Nach einer Pause fährt er gedankenverloren fort: » Manchmal wünsche ich mir das auch. Öfter mal allein zu sein. Ruhe zu haben. Zeit zum Nachdenken. «
    Aber all das hat er doch, oder etwa nicht? Er hat diese versteckte Hütte mitten im Wald, viel einsamer als dort geht es ja kaum. Ruhe und Zeit müssten da wie ganz von allein kommen.
    Die monotone Ruderbewegung scheint ihn in eine Art Trance versetzt zu haben, denn er redet weiter, wie zu sich selbst: » Die Hütte im Tijuca-Wald ist nur eine letzte Zuflucht, ein Versteck für Notfälle. Eigentlich lebe ich ständig auf der Flucht, so ähnlich wie du es zurzeit tust. Mal hier, mal dort– das ist auf Dauer sehr ermüdend. Ich schlafe in den Küchen anderer Leute, auf dem Fußboden von Fremden, in den Abstellschuppen von Freunden, in den Lagerkellern freundlicher Wirtinnen, in den Kajüten reparaturbedürftiger Boote oder in ausgemusterten Eisenbahnwaggons. Meine Ansprüche sind gering, es geht schon. Aber gelegentlich erlaube ich mir den Traum von einem eigenen Haus, in dem ich unbehelligt leben könnte. Ich würde den halben Tag im Schatten auf der Veranda liegen, in einer Hängematte, und friedlich meine Pfeife rauchen. « Er blickt sehnsuchtsvoll in die Ferne, als er mir all das gesteht. Ich bin dankbar, dass er sich mir öffnet und mir diese kleinen privaten Dinge anvertraut.
    Allerdings drängen sich mir wieder etliche Fragen auf. Warum lebt er nicht in Aldemiras Haus, das doch von außen einen recht wohnlichen Eindruck machte? Vor was ist er auf der Flucht? Weshalb hat er seinen kleinen bescheidenen Traum vom eigenen Haus nicht längst verwirklicht? Mein Schmuck hätte ihm das doch auf einen Schlag ermöglicht. Und wie kann er sich selbst so falsch einschätzen, dass er glaubt, tagelang auf der faulen Haut zu liegen sei erstrebenswert? Für einen rastlosen Menschen wie ihn, dessen Geist hellwach ist und dessen Seele hungrig, ist das süße Nichtstun gar nicht geeignet.
    Â» Du würdest in deiner Hängematte eingehen vor Langeweile « , fasse ich meinen Eindruck zusammen.
    Â» Schon möglich. «
    Er rudert weiter, den Blick in die Ferne gerichtet. Wir sind in nordöstlicher Richtung unterwegs, ich vermute, dass wir die Ilha de Paquetá ansteuern. Diese Insel liegt mitten in der Guanabara-Bucht und ist ein beliebtes Ausflugsziel. Ich war noch nie dort, denn immer, wenn ich mit meinen Eltern in Rio war, hatten wir so viele andere Pläne– Einkaufsbummel, Theaterbesuche, Dinnereinladungen–, dass wir für solche touristischen Extras keine Zeit hatten. Schade, dass mein erster Besuch der Paquetá-Insel nun unter solchen Umständen stattfindet.
    Die Strecke ist weit, es dürften mindestens fünfzehn Kilometer sein, die Lu rudernd zurücklegen muss. Er zeigt keinerlei Anzeichen von Ermüdung, allerdings liegt inzwischen ein leichter Schweißfilm auf seinem Gesicht, und sein Hemd hat unter den Achseln dunkle Flecken. Beruhigend, dass auch Lu nur ein Mensch ist, dass seiner Körperkraft durch das schwüle Wetter und die Anstrengung

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