Januarfluss
gewisse Grenzen gesetzt sind. Seine Belastbarkeit und seine scheinbare Unempfindlichkeit gegenüber der Hitze waren mir schon fast ein bisschen unheimlich geworden.
Wir erreichen einen malerischen kleinen Sandstrand, der völlig menschenleer ist. Bei Sonnenschein wäre das Panorama sicher noch hübscher, mit den Palmen und den vereinzelten Felsen. Lu zieht das Boot ans Ufer, dann stapft er durch den Sand zu einer Fischerhütte. Die Tür ist nicht verriegelt, doch es befindet sich niemand im Inneren. Zwischen Fischernetzen und allerlei Gerätschaften kramt Lu einen abgewetzten Seesack hervor, den er mir zuwirft. » Darin sind Kleidungsstücke. Zieh sie dir an. Ich warte solange drauÃen. «
Die Sachen stinken nach Fisch und altem SchweiÃ. Es handelt sich um die Arbeitskleidung eines Fischers, oder um die seines Sohnes, denn für einen erwachsenen Mann ist die Hose zu kurz und das Hemd zu schmal. Mir dagegen passt alles perfekt. Sogar an eine Mütze, wie sie für Fischer üblich ist, hat Lu gedacht. Darunter kann ich meine Haare verstecken. Meine eigene Kleidung stopfe ich in den Seesack. Als ich wieder aus der Hütte herauskomme, steht Lu von dem Felsen auf, auf dem er während des Wartens gesessen hat, und rümpft die Nase. Ich muss zehn Meilen gegen den Wind stinken.
» Ich schätze, dieses besondere Parfum macht deine Verkleidung nur noch glaubwürdiger « , kommentiert er ironisch.
» Wie sehe ich aus? « Ich klimpere mit den Wimpern und drehe mich vor ihm, als wäre ich bei der Anprobe eines herrlichen Ballkleides.
» Wunderschön « , sagt Lu, wobei ihm diesmal der ironische Unterton fehlt. Ich fürchte, er meint es ernst.
Ich greife nach meinem anderen Bündel, das zwischen Lus FüÃen steht, und packe es in den Seesack hinein. Als ich mir diesen umhängen will, schnappt Lu ihn sich mit unwirscher Miene. Ich finde es herzerwärmend, dass er mich immer noch wie eine feine Dame behandelt, deren Gepäck man trägt, auch wenn ich aussehen muss wie ein schmächtiger, armer Fischerjunge.
Ãber eine LehmstraÃe gehen wir die kurze Strecke zu dem kleinen Hafen von Paquetá. Dort besteigen wir, ohne uns groà mit BegrüÃungen und Vorstellungen aufzuhalten, ein gröÃeres Fischerboot, das von einem alten Mann unbestimmter Hautfarbe gesteuert wird. Er könnte ein WeiÃer sein, der nach Jahrzehnten an der Sonne diese tiefe Bräune hat, genauso gut aber auch ein Mulatte. Er ist völlig kahl, sodass seine Haare mir keinen Hinweis auf seine Abstammung geben. Aber die ist ja auch völlig nebensächlich, oder?
Wir wechseln kein Wort miteinander, bis wir abgelegt haben und weit genug weg vom Ufer sowie von anderen Booten entfernt sind.
» Wohin fahren wir? « , frage ich.
» Nach Copacabana « , antwortet Lu.
» Oh, da haben wir aber einen hübschen kleinen Umweg gemacht « , rutscht es mir heraus.
» Ja, und Fernandos Leute können sich hier dumm und dusselig suchen, während wir längst über alle Berge sind. «
» Warum sollten sie ausgerechnet hier nach mir suchen? «
» Glaubst du vielleicht, unser ⺠hübscher kleiner Umweg ⹠sei unbemerkt geblieben? «
Wahrscheinlich nicht. Je genauer ich es mir überlege, desto schlauer scheint mir die falsche Fährte zu sein, die Lu gelegt hat. Es waren nur wenige Leute, die uns gesehen habenâ genug, um den Schuft auf unsere Spur zu bringen, aber zu wenige, um es wie eine absichtliche Irreführung wirken zu lassen.
Der Fischer hat die Segel gesetzt, sodass wir deutlich schneller vorankommen als nur mit Rudern. Wir halten genau auf den Zuckerhut zu. Je näher wir ihm und damit dem offenen Ozean kommen, desto besser wird die Luft. Die Meeresbrise duftet frisch und salzig. Ich schlieÃe für einen Augenblick die Augen und stelle mir vor, ich sei nicht auf dem Weg zu einem abgelegenen Strand, sondern nach Europa. Eine Welle, die höher ist als die bisherigen, bringt das Boot stärker zum Schaukeln. Ich verliere für eine Sekunde das Gleichgewicht, weil ich mit geschlossenen Augen dagestanden und mich nicht konzentriert habe. Ich wankeâ und fühle plötzlich Lus muskulöse Arme, die mich von hinten warm und sicher umfangen.
Wäre ich gestürzt, wenn er nicht hinter mir gestanden hätte? Ich glaube es nicht. Aber ich lehne mich an ihn, als sei ich froh über diese » Rettung « ,
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