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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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mit dem Licht auch gleichzeitig alle Luft zum Atmen verschwunden. Ich zähle im Geiste langsam bis zehn und versuche, bei jeder Zahl ein- beziehungsweise auszuatmen. Für eine Panikattacke ist jetzt der denkbar schlechteste Zeitpunkt. Es gelingt mir schließlich, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Viel besser geht es mir dadurch aber noch lange nicht.
    Ich denke an all die Dinge und Tiere, die sich hier unten befinden könnten. Aldemira hat mir bestimmt nicht alles erzählt, weil sie befürchtete, ich könne einen Rückzieher machen. Die übelsten Details wird sie mir verschwiegen haben. Da ist es ja schon fast ein Vorteil, dass ich nichts sehen kann.
    Ich kann auf allen vieren vorwärtskriechen und muss mich nicht, wie ein größerer Mensch, robbend durch den Tunnel bewegen. Meine Hände greifen in eine breiige Masse, meine Knie sind längst nass, aber das ist alles noch besser, als mit dem ganzen Körper flach in dieser Brühe zu liegen und sich vorwärtsschlängeln zu müssen. Jetzt verstehe ich, warum meine Habseligkeiten in einer Wachstuchtasche verstaut sind. Schön wären auch Kleidungsstücke aus Wachstuch gewesen, denke ich, und zwar vom Kopf bis zu den Füßen. Ich habe Angst, dass ich mir hier etwas Schreckliches einfange, eine unheilbare Krankheit, die schnell und schmerzhaft zum Tode führt.
    Mein Gott, ich muss meine Fantasie zügeln! So komme ich hier nie durch. Ein Knie vor das andere setzen, immer nur einen Schritt im Voraus denken– alles andere würde einen in den sicheren Wahnsinn treiben. Wie kann ich das Denken einstellen? Im Moment ist alles, was mir durch den Kopf geht, eher hinderlich. Ich versuche es mit Zählen, stumpfsinnigem Abzählen der Jahreszahlen von meiner Geburt an: achtzehnhundertdreiundsiebzig, achtzehnhundertvierundsiebzig, achtzehn… Ich merke, dass ich laut vor mich hin spreche.
    Darf ich das? Hat Aldemira darüber irgendetwas gesagt? Kann man mich irgendwo da draußen hören? Oder muss ich in absoluter Stille diesen Weg des Grauens zurücklegen? Ich erinnere mich an keine derartige Warnung, also zähle ich weiter. Der Klang meiner eigenen Stimme spendet mir ein wenig Trost, sodass ich weiterkrabbeln kann, ohne von erneuten Schreckensvisionen geplagt zu werden.
    Ich erreiche den anderen Keller im Jahr zweitausendzweihundertzweiundachtzig, mit anderen Worten: nach einer Ewigkeit. Laut Aldemira dürften allerdings nicht mehr als zehn Minuten vergangen sein. Wie dehnbar doch der Zeitbegriff ist!
    Auch hier führen verrostete Stufen hinauf zu dem Deckel, das jedenfalls sagt mir mein Tastsinn, denn zu sehen ist nichts. Ich klettere hoch, bis ich mit dem Kopf anstoße. Mit einer Hand halte ich mich an der obersten Stufe fest, mit der anderen versuche ich den Deckel beiseitezuschieben. Doch es tut sich nichts. Verflucht! Wie soll ich denn aus meiner instabilen Position heraus die Kraft aufbringen, dieses Ungetüm aus dem Weg zu schaffen? Und ist das überhaupt ein Ausgang? Vielleicht habe ich mich ja in dem Tunnel verirrt und bin an einem stillgelegten Ende angelangt, das oben verschlossen ist, mit einer dichten Decke aus Pflastersteinen darüber.
    Ich muss mich zusammenreißen. Wenn ich mich mit beiden Händen festhalte, die Tasche schräg über meine Schulter gehängt, dann kann ich einen Buckel machen und die Kraft meines Rückens einsetzen. Ich versuche es, und tatsächlich: Über mir bewegt sich etwas.
    Es ist ein echter Kraftakt, doch mit jedem Zentimeter, den ich den Deckel weiter öffne, nehmen meine Kräfte zu: Die frische Luft und ein schwaches Licht geben mir Auftrieb. Es dauert aber noch eine ganze Weile, bis ich den Deckel so weit aufgestemmt habe, dass ich hindurchpasse. Als ich den Höllenschlund endlich verlassen habe, erscheint mir der feuchte, muffige Keller wie das Paradies.
    Durch das unverschlossene Fenster fällt etwas Mondlicht von draußen in den Keller– vor ein paar Tagen war Vollmond. Ich klettere auf ein Regal, um durch die Fensterluke zu steigen, und finde mich, wie von Aldemira beschrieben, in einem Hof wieder. Ich entdecke auch sofort die Regentonne, allerdings frage ich mich, wie ich mich hier unbemerkt waschen und umziehen soll. Es ist eine mondhelle Nacht, und jeder, der einen Blick aus dem Fenster in den Hof wirft, kann mich hier sehen. Aber was soll ich sonst tun? Verschmutzt, wie ich bin, kann ich unmöglich auf die

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