Januarfluss
Collier lasse ich auf der Kommode liegen, als sei mein Entwenden der Ohrringe dadurch weniger verwerflich. Nun muss ich nur noch irgendwo Geld auftreiben. Ich schätze, dass das Zimmer, in dem mein Onkel untergebracht ist, die besten Aussichten auf Erfolg bietet. Er wird wohl kaum mit der Brieftasche in seiner Ausgehuniform auf dem Fest erschienen sein.
Allerdings fühle ich mich gar nicht wohl in meiner Haut, als ich meinen Beutel schultere und wie ein echter Diebâ und ein solcher werde ich bald seinâ über den Flur husche. Wenn mich jetzt jemand sehen sollte, dann wird es ein riesiges Theater geben, denn zunächst wird man in mir einen diebischen Sklaven vermuten, vielleicht sogar einen, der die Flucht wagt.
Das geschieht übrigens immer mal wieder. Die Sklaven werden ja schon seit Jahrzehnten nicht mehr angekettet, und nachts, wenn der Aufseher schläft und man die Hunde mit einem Knochen bestechen kann, ist es gar nicht schwer, fortzulaufen. Aber wozu? Nur wegen der Freiheit? Was nützt den Schwarzen die Freiheit, wenn sie dafür alle möglichen Entbehrungen auf sich nehmen müssen? Auf unserer Fazenda haben sie ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, und sie werden gut behandelt.
Im selben Augenblick, in dem ich das denke, schelte ich mich für meine eigene Ãberheblichkeit. Bin ich nicht gerade selbst im Begriff, meinen Komfort gegen die Freiheit auszutauschen?
Ich sollte nicht so viel nachdenken. Handeln ist jetzt gefragt. Ich schlüpfe durch die Tür in Onkel Eduardos Zimmer, wo ich seine Geldbörse ziemlich schnell in einer Schublade finde. Ich entnehme ihr einige Scheine, überschlagen rund 20Mil-Réis. Das müsste reichen. Und mehr wage ich auch nicht zu stehlen. Mein Herz hämmert in meiner Brust, meine Hände fühlen sich schwitzig an. Zur Diebin bin ich nicht gerade geschaffen. Wenn in diesem Moment jemand durch die Tür treten und mich auf frischer Tat ertappen würde, ich schwöre, ich würde vor Schreck tot umfallen.
Ungesehen gelange ich zum Hinterausgang. Ich trete durch die Tür und sehe nach, ob die Luft rein ist, dann laufe ich los.
» He, du da! « , ruft plötzlich jemand.
Mir rutscht das Herz in die Hose.
» Stehen geblieben! «
Ich renne durch den Regen Richtung Stall. Vielleicht wird man mich für einen vorwitzigen Pferdeknecht halten, der sich vor der casa grande ein Stelldichein mit einem Hausmädchen gegeben hat. Dank des Regens folgt mir niemand, wie ich erleichtert feststelle, als ich am Stall angekommen bin.
Die Kutscher halten hier ihr eigenes kleines Fest ab. Sie haben der Köchin anscheinend ein paar Leckereien abschwatzen können, auÃerdem scheinen sie der cachaça, dem Zuckerrohrschnaps, schon ausgiebig zugesprochen zu haben. Einer von ihnen spielt auf einem cavaquinho, einer Art Miniaturgitarre, eine heitere Melodie, ein anderer klopft dazu im Rhythmus auf einen umgedrehten Eimer, die anderen singen ein Lied, dessen Text von ziemlich anrüchigem Inhalt ist. Nun ja, es sei ihnen gegönnt. So sind sie wenigstens abgelenkt und bemerken mich nicht.
Ich verstecke mich in einer Ecke, in der alle möglichen Gerätschaften und Werkzeuge liegen, und warte.
Irgendwann ist es so weit: Ein Haussklave kommt und ruft den Kutscher der Vieiras, er möge anspannen und vorfahren. Senhor Vieira und seine Frau kommen aus Vassourasâ das ist meine Chance. Ich laufe hinter den Ziersträuchern und den Palmen unsere Auffahrt hinab, denn es gibt nur eine Stelle, an der eine Kutsche langsam genug fährt, damit ich aufspringen kann. Ich hocke im Unterholz, voller nervöser Unruhe und ängstlicher Erregung. Ich weià nicht, ob ich das Richtige tue, aber ich fühle mich lebendiger denn je.
Als die Kutsche an der tiefen Kuhle im Weg wie erwartet abbremst, springe ich auf die Gepäckablage am hinteren Ende des Gefährts. Der Kutscher und seine Fahrgäste scheinen nichts bemerkt zu haben, dem Gerumpel auf dem unebenen Weg sei Dank. Auch die Dunkelheit und der starke Regen schützen mich, denn andernfalls wäre die Karosse mit offenem Verdeck gefahren und die Vieiras hätten womöglich die nächtliche Landschaft bewundert. Mit Müh und Not kann ich mich auf der Gepäckablage halten, ohne meinen Beutel zu verlieren. Ich bin völlig durchnässt und ich flutsche in meinen viel zu groÃen Sandalen hin und her. Regenwasser läuft mir ins Gesicht und kitzelt mich,
Weitere Kostenlose Bücher