Januarfluss
doch ich kann es nicht fortwischen, da ich mich mit beiden Händen festklammern muss.
Die Strecke, die mir immer kurz erschien und meist sehr vergnüglich war, wird mir unendlich lang. Ich verharre in einer unnatürlichen Position, die meine Muskeln verkrampft. Bei jedem Stein, über den wir holpern, muss ich vor Schmerz stumm ächzen. Bei jeder Pfütze, von denen es nach dem ergiebigen Regen viele gibt, schleudern mir die Wagenräder den Schlamm ins Gesicht, der mich juckt und ekelt. Und die schwüle Hitze, zusammen mit der ungewohnten körperlichen Anstrengung, treibt mir den Schweià aus allen Poren. Kurz: Es ist das reinste Grauen.
Trotzdem erwische ich mich dabei, manchmal vor mich hin zu schmunzeln: In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas so Abenteuerliches gewagt.
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Die Morgendämmerung setzt bereits ein, als die Kutsche endlich in Vassouras ankommt. Sie hat wegen der Witterungsverhältnisse für die Strecke viel länger benötigt als üblich. Ich schätze, dass es etwa fünf Uhr ist. Um halb sechs, so viel weià ich, geht um diese Jahreszeit die Sonne auf. Bevor sie das tut, färbt der Himmel sich in den schillerndsten Türkis- und Orange-Tönen. Oft werde ich nicht gerade Zeugin dieses Naturschauspiels, denn ich schlafe gern lang. Umso mehr genieÃe ich nun dieses Spektakel am Himmel. Obwohl ich todmüde und so erschöpft bin, dass ich im Stehen einschlafen könnte, verleiht mir diese grandiose Morgenstimmung groÃe Energie.
Es ist nicht nur der Beginn eines neuen Tags. Es ist der Anfang eines neuen Lebens: Freiheit, ich komme! Ich bin aufgekratzt und voller Tatendrang. Vergessen sind die Wut und die Trauer über den Verrat meiner Eltern, wie weggewischt sind die Strapazen der Fahrt hierher. Nur eines habe ich jetzt vor Augen: Rio de Janeiro. Ich werde diese wunderbare Stadt im Flug erobern, ich werde allen beweisen, was in mir steckt, und vor allem: Ich werde es ohne fremde Hilfe schaffen. Die werden sich noch alle wundern, wenn sie eines Tages die Zeitung aufschlagen. » Theater-Diva Isabel de Oliveira auf Europa-Tournee « werden sie dann vielleicht im Feuilleton lesen, oder auch » Millionärin Isabel de Oliveira gibt gröÃten Ball in der Geschichte Brasiliens « als Ãberschrift der Klatschspalte.
Pah!, ich brauche keine Elternâ sie brauchen mich.
Dass ich weder besonders musikalisch noch ein mathematisches Genie bin oder sonst irgendein Talent hätte, belastet mich nicht weiter. Ich weià einfach, dass ich Erfolg haben werde. Es ist schlieÃlich Januar. Und der war schon immer mein Glücksmonat. Es ist der Monat, in dem ich Geburtstag habe. Es ist auÃerdem der sommerlichste und damit unbeschwerteste Monat, in dem alle Welt Urlaub macht und in dem man die kleinen Alltagssorgen vergisst. Was soll mir da noch passieren? Zumal ich in eine Stadt fahre, die nach dem Januar benannt istâ Rio de Janeiro, » Januarfluss « .
Schuld daran sind die Portugiesen. Als ihre Schiffe am 1.Januar des Jahres1502 am Zuckerhut vorbei in die Guanabara-Bucht einliefen, dachten sie, es müsse sich um eine riesige Flussmündung handeln. Also benannten sie den Ort, an dem sie festmachten, nach diesem nicht existenten Fluss, » Rio « , sowie nach dem Monat ihrer Landung, » Janeiro « . Erst später bemerkten sie, dass es sich keineswegs um ein Flussdelta handelte, sondern um eine riesige Meeresbucht, aber da hatte Rio de Janeiro schon seinen Namen weg.
So erzählt man es sich zumindest. Wir Brasilianer sind froh über jede Gelegenheit, die Portugiesen, unsere ehemaligen Kolonialherren, als Dummköpfe dastehen zu lassen, was sie sicher nicht waren und sind. Die beste Schülerin in unserer Klasse ist jedenfalls Portugiesin, und zwar eine echte, also eine, die in Portugal geboren wurde.
Sonderbar, was mir alles für Dinge durch den Kopf gehen, während ich völlig verdreckt durch das menschenleere Vassouras schlendere und der Sonne beim Aufgehen zusehe. Ich muss mich zusammenreiÃen und darf mich keinen Träumereien hingeben. Vor mir liegt noch ein langer, beschwerlicher Weg. Wie beschwerlich, das dringt nur ganz langsam in mein Bewusstsein: Es ist Sonntag. Es werden nur sehr wenige Züge fahren, denn Güterzüge sind meines Wissens heute nicht unterwegs. Damit erübrigt sich mein Plan, mich in einem Waggon voller Kaffeesäcke zu verstecken. Irgendwie muss ich es in einen der
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