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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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vornehmes Mädchen, dem schwindelig ist, hat wahrscheinlich vor Aufregung vergessen zu essen oder leidet unter Reisefieber, während ein junger Bursche aus der dritten Klasse, dem hörbar der Magen knurrt, einfach nur ein Hungerleider ist, vor dem man sich in Acht nehmen muss.
    Das Leben ist ungerecht.
    Nach einem letzten Täuschungsmanöver, mit dem ich die beiden älteren Damen glauben mache, ich liefe hinter meiner armen Mutter her, die vor Sorge um mich schier wahnsinnig sein muss, verlasse ich den Bahnhof.
    Und nun? Als Erstes sollte ich mich vielleicht um eine Unterkunft bemühen. Ich fühle mich nach der durchwachten Nacht zerschlagen, ein Bett ist das, wonach ich mich im Augenblick am meisten sehne. Und Essen. Die Kekse haben meinen Hunger keineswegs gemildert, sondern meinen Appetit erst recht angeregt. Ich stelle mir eine nette Pension vor, in der eine freundliche, dicke Zimmerwirtin mir für wenig Geld eine hübsche Kammer vermietet und mir eine schmackhafte, reichhaltige Mahlzeit am Tag zubereitet. So etwas muss es doch geben. Die Frage ist nur: Wo?
    Ich war schon oft in Rio de Janeiro und ich habe dort auch schon einige Male übernachtet. Aber entweder haben wir bei Freunden oder Verwandten gewohnt oder wir sind in feinen Hotels abgestiegen. Beides kommt jetzt nicht infrage. Und einfache Pensionen kenne ich hier keine. Ich muss es also auf gut Glück versuchen. Ich hoffe, dass ich eine Reklametafel oder ein Schild sehe, wenn ich einfach durch die Stadt spaziere.
    Aber so einfach ist das gar nicht. Die Straßen liegen wie ausgestorben da, menschenleer. Es ist früher Nachmittag, und die Hitze ist so mörderisch, dass es nicht verwunderlich ist, dass keine Seele freiwillig vor die Tür geht. Die Geschäfte haben alle geschlossen. Meine aufgeregte Vorfreude auf die herrlichen Abenteuer meiner glorreichen Zukunft ist längst einer bedrückten Stimmung gewichen. Es wirkt alles so tot. Und ich selbst bin kurz vorm Umfallen. Ich habe Durst und Hunger, ich bin furchtbar müde, und ich sehne mich nach meinem Sonnenschirm. Den habe ich natürlich nicht mitgenommen. Aber wer hätte auch gedacht, dass ich stundenlang durch verlassene Gassen irre, in denen die Gluthitze des Nachmittags sich staut?
    Als ich endlich ein unscheinbares Schild entdecke, auf dem » Kost und Logis « steht, falle ich fast auf die Knie– nicht vor Dankbarkeit, sondern vor Schwäche. Es gibt einen verbeulten Messingklopfer an der Tür, den ich zaghaft betätige. Vielleicht war ich ein wenig zu zögerlich, denn nichts rührt sich in dem Haus. Ich klopfe erneut an, diesmal energischer. Das metallische Geräusch muss durch die ganze Innenstadt Rios hallen, aber drinnen tut sich noch immer nichts. Niemand zu Hause. So ein Pech.
    Ich bin den Tränen nahe, als ich mich aufraffe, weiterzulaufen. Oder besser: weiterzuschleichen, denn ich fühle mich kraftlos und leer.
    Â» Was gibt’s denn? « , höre ich plötzlich eine unfreundliche Stimme. Ich drehe mich herum, sehe aber niemanden.
    Â» Hier oben! «
    Und tatsächlich: Am Fenster im zweiten Stock beugt sich ein Mann über die rostige Brüstung und winkt.
    Â» Ich brauche ein Zimmer « , sage ich.
    Â» Und ich brauche meinen Mittagsschlaf « , kommt es von ihm.
    Na schön, ich habe ihn also geweckt. Aber das ist noch lange kein Grund, so unhöflich zu sein. Ich bin eine Kundin, oder etwa nicht?
    Â» Bitte sehr, dann schlafen Sie weiter « , erwidere ich frech. Immerhin hat mein loses Mundwerk noch nicht unter Nahrungs- und Schlafmangel gelitten.
    Â» Nein, warten Sie, Senhorita. Ich komme sofort. «
    Als der Mann die Tür öffnet, schlägt mir ein widerlicher Geruch von kaltem Zigarrenrauch, überreifem Obst und ungewaschenen Leibern entgegen.
    Â» Treten Sie nur ein « , fordert der Mann mich auf, als er mein Zögern bemerkt. » Ich weiß nicht, ob wir was frei haben, meine Mutter kümmert sich um die Zimmervermietung. Aber sie muss gleich zurückkommen, Sie können hier drin auf sie warten. « Er weist mir den Weg in einen ungepflegten Raum, der wohl die » gute Stube « sein soll. Abblätternde Wandmalereien und ein verkratzter Parkettboden zeugen davon, dass dieser Raum einst sehr schön gewesen sein muss. Das Grün der Samtvorhänge ist verblichen, die Fensterscheiben sind fast blind. Ein abgewetzter Perserteppich sowie ein schief hängender, mit Staub

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