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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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normalen Personenzüge schaffen.
    Und noch ein anderes Problem macht sich lautstark bemerkbar: Mein Magen knurrt. Ich habe vergessen, etwas zu essen mitzunehmen! Wie konnte ich nur so dumm sein? An alles habe ich gedacht, nur nicht an das Allerwichtigste, nämlich Nahrung. Das kommt davon, wenn man im Überfluss aufwächst und sich noch nie im Leben Gedanken darüber machen musste, wo die nächste Mahlzeit herkommt. Nun gut, ein paar Stunden Hungern werden mir schon nicht schaden.
    Â» Was lungerst du hier vor dem Bahnhof herum, Bursche? « , vernehme ich plötzlich eine barsche Stimme. » Verzieh dich, und zwar ein bisschen hoppla! «
    Ich setze mein hochnäsigstes Sinhazinha-Gesicht auf, als mir noch rechtzeitig einfällt, dass ich wahrlich nicht aussehen dürfte wie ein Mädchen von vornehmer Herkunft. Der Bahnhofsvorsteher muss mich für einen Herumtreiber halten. Die Vorstellung gefällt mir und zaubert mir offensichtlich ein Lächeln ins Gesicht, denn der strenge Beamte fährt mich an: » Was gibt’s denn da zu grinsen? Fort von hier, habe ich gesagt, sofort! «
    Ich nicke ergeben und gehe langsam davon. Ich bin froh, dass meine Tarnung so gut ist. Die Kleidung des Stallburschen und mein unter dem Strohhut verstecktes Haar haben den Mann anscheinend wirklich getäuscht: Er hält mich für einen Jungen. Der Schmutz von der Kutschfahrt über schlammige Wege tut ein Übriges. Ich muss nur aufpassen, dass ich weiterhin schweige, sonst verrät meine Stimme mich noch.
    Aber wie komme ich jetzt in den nächsten Zug?
    Ich bin so in Gedanken gewesen, dass ich gar nicht gemerkt habe, wo mich meine Schritte hingeführt haben, nämlich direkt auf den Vorplatz der Kirche. Es gibt dort einen schönen Brunnen, und da so früh am Morgen noch keine Menschenseele unterwegs ist, nutze ich die Gelegenheit, um mich notdürftig zu säubern und meinen Durst zu löschen. Ich forme meine Hände zu einer Schale und lasse direkt aus der Fontäne Wasser hineinprasseln, das ich gierig trinke. Mein Gott, so süß und köstlich hat mir klares Wasser noch nie geschmeckt!
    Danach gehe ich zu einer Parkbank, weil ich mich müde fühle und einen Augenblick über mein weiteres Vorgehen nachdenken muss. Kaum sitze ich, merke ich auch schon, wie mir die Augen zufallen. Ich bin machtlos dagegen.
    Geweckt werde ich vom Läuten der Kirchenglocken. Ach ja, es ist Sonntag. In Kürze werden all die Kirchgänger hier eintrudeln. Unter ihnen dürften einige sein, die mich kennen. Ich muss mich also schleunigst verdrücken. Mir läuft ohnehin die Zeit davon. In etwa zwei Stunden wird Maria in meinem Zimmer aufkreuzen, um mich mit einem Milchkaffee zu wecken. Spätestens dann wird mein Verschwinden auffallen und spätestens dann sollte ich über alle Berge sein.
    Ich mache mich also wieder auf den Weg zum Bahnhof. Von dem unhöflichen Beamten von vorhin ist nichts zu sehen. Dafür sind jetzt ein paar Leute am Bahnsteig. Das kann ja nur bedeuten, dass demnächst eine Eisenbahn kommt. Und ich habe auch schon eine Idee, wie ich mitfahren kann, ohne zu bezahlen. Das wenige an Bargeld, was ich besitze, will ich nämlich nicht für eine Fahrkarte verschwenden. Ich weiß nicht, ob mein Plan gelingt, aber ich bin sehr zuversichtlich.
    Auf zum Januarfluss!
    Beinahe verschlafe ich meine Ankunft in Rio de Janeiro. Mein schlauer Trick hat wunderbar funktioniert: Ich habe mich im Zug umgekleidet, und als der Schaffner mich im Gang nach meinem Fahrschein fragte, habe ich gesagt, meine Mutter, die in der ersten Klasse sitzt, habe ihn. Ich habe ihn zugleich darauf hingewiesen, dass mir ein merkwürdiger Bursche aufgefallen sei, der sich offensichtlich verstecke– woraufhin der Schaffner sogleich in die andere Richtung entschwand, um sich des blinden Passagiers anzunehmen. Ich bin unterdessen in ein Abteil gegangen, in dem zwei ältere Damen saßen, und habe sie gebeten, einen Moment bei ihnen Platz nehmen zu dürfen, mir sei so schwindelig. Die beiden guten Frauen haben mir Kekse angeboten, kurz danach muss ich eingeschlafen sein.
    Lektion Nummer eins: Die Menschen achten zu sehr auf Äußerlichkeiten. Diesen Umstand kann man sich zunutze machen. Ein junges Mädchen aus gutem Hause würde niemals ohne Fahrschein eine Eisenbahn besteigen, oder? Ein zerlumpter Habenichts dagegen steht immerzu im Verdacht, unredlich zu handeln. Ein

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