Januarfluss
Artikel über Prinzessin Isabelâ die Tochter unseres Kaisers Dom Pedro II ., der ich meinen Namen verdankeâ liest sich ganz unterhaltsam. Princesa Isabel setzt sich für die Abschaffung der Sklaverei ein, was ich für sehr vernünftig halte. Ich kann stolz auf meine Namenspatin sein.
Plötzlich stockt mir der Atem. Oh mein Gott! Auf Seite14 ist in der Rubrik » Vermischtes « eine Fotografie von mir abgebildet. Die Ãberschrift des dazugehörigen Artikels lautet: » Mädchen verschwundenâ die Behörden bitten um Ihre Mithilfe « . Ach du liebes bisschen, damit hatte ich gar nicht mehr gerechnet. Auf der Fotografie bin ich glücklicherweise nicht gut zu erkennen, denn es handelt sich um ein Bild, das vor etwa zwei Jahren anlässlich eines Familienfestes aufgenommen wurde. Ich sehe darauf aus wie ein kleines Kind, auÃerdem starre ich den Betrachter aus schreckgeweiteten Augen an. Ich erinnere mich gut daran, wie ängstlich ich damals war, als der Fotograf hinter dem schwarzen Tuch seiner riesigen Apparatur verschwand und wir alle mucksmäuschenstill in unserer Pose verharren mussten.
Die anderen Personen auf der Fotografie sind nicht in der Zeitung abgebildet, nur ich in meinem braven Kleinmädchenkleid, das Gesicht zum Teil hinter einem BlumensträuÃchen verborgen. Nein, dieses Bild stellt nun wirklich keine Gefahr dar, ich bin absolut nicht wiederzuerkennen. Die Beschreibung in dem Artikel ist da schon präziser, wenngleich auch sie mich nicht wirklich enttarnt.
Senhorita Isabel de Oliveira, die 15-jährige Tochter des Senhor Raimundo de Oliveira und seiner Gemahlin Dona Rosália, Besitzer der Kaffee-Fazenda Ãguas Calmas in der Nähe von Vassouras, Provinz Rio de Janeiro, verschwand in der Nacht zum 15.Januar spurlos. Das Mädchen ist von mittelgroÃer Statur und schlank. Sie hat schwarzes Haar und grüne Augen. Besondere Kennzeichen sind nicht bekannt. Zum Zeitpunkt ihres unerklärlichen Verschwindens trug sie wahrscheinlich ein grünes Seidenkleid sowie kostbaren Smaragdschmuck. Letzterer gibt den hochbesorgten Eltern Anlass zu der Befürchtung, ihre Tochter könne einem Raubüberfall oder einer Entführung zum Opfer gefallen sein. Da die Beamten der örtlichen Polizei nicht den geringsten Hinweis auf den Verbleib der jungen Dame finden konnten, wird nun die Suche auf die ganze Provinz Rio de Janeiro ausgeweitet. Senhor de Oliveira bittet die Bevölkerung um ihre Mithilfe und hat eine Belohnung in Höhe von 300Mil-Réis für Hinweise ausgesetzt, die zum Auffinden des Mädchens führen.
Ich bin fassungslos. Zum einen erstaunt es mich, dass mit einem solchen Aufwand nach mir gesucht wird. Dass eine so hohe Belohnungâ 300Mil-Réis kostet heutzutage ein kräftiger männlicher Sklaveâ ausgesetzt wurde, wird schlimme Folgen für mich haben. Die Geldgier der Menschen ist nicht zu unterschätzen, es wurden schon Morde für weniger verübt. Wenn Dona Eufrásia oder ihr Sohn einen Verdacht hegen sollten, dann bin ich hier nicht länger sicher.
Zum anderen bin ich bestürzt. Alice hatte recht: Ich hätte meinen Eltern eine Notiz dalassen sollen. Dass sie sich solche Sorgen um mich machen, bekümmert mich. Obwohlâ sie haben es eigentlich nicht besser verdient.
Woher nehmen sie überhaupt so viel Geld für diese unsägliche Belohnung? Ich denke, wir stehen vor dem Ruin. Wie können sie sich das leisten? Nun, eines weià ich jetzt wenigstens: Ich bin ihnen einiges wert. Ungefähr so viel wie das Tafelsilber. Oder sind es vielmehr die Smaragdohrringe, die sie zurückhaben wollen?
Als ich die Zeitung zuschlage, merke ich, dass meine Hände zittern. Vovó hat sich leise aus meiner Kammer zurückgezogen, und ich bin dankbar dafür, allein zu sein. Ich muss über mein weiteres Vorgehen nachdenken.
Im Grunde habe ich drei Möglichkeiten. Erstens: Ich gehe zurück nach Ãguas Calmas, wo ich mich dem Willen meines Vaters beugen und einen Mann heiraten muss, den ich nicht liebe. Zweitens: Ich bleibe in Rio de Janeiro, und zwar hier in der Pension von Dona Eufrásia, wo ich so weitermache wie bisherâ was vielleicht noch zwei Wochen funktioniert, bevor mir das Geld ausgeht. Bestenfalls. Denn es kann ja immer noch passieren, dass mich jemand aufgrund des Zeitungsartikels erkennt und den Behörden ausliefert. Drittens: Ich bleibe in Rio de Janeiro, lege mir
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