Januarfluss
Kochtöpfenâ allein die Erinnerung daran löst eine Welle von Verlustschmerz in mir aus, die mich fast zum Weinen bringt.
» Bist du so weit? « , höre ich Lus Stimme. Sein Erscheinen rettet mich davor, noch tiefer in Selbstmitleid zu versinken. Ich bin froh darüber.
» Ja. « Ich schnappe meinen neuen Hut, der Teil meiner Ausstattung ist, für die Lu ein halbes Vermögen bezahlt hat. Als ich ihn darauf ansprach, erwiderte er nur, manche Investitionen müssten eben sein und dass sie sich später doppelt und dreifach auszahlen würden. Ich hoffe, er behält recht. Wenn, was ich vermute, das Geld für all diese Anschaffungen aus dem Verkauf der Ohrringe stammt, dann soll es sich auch bitte gelohnt haben.
Es versetzt mir einen kleinen schmerzlichen Stich, dass ich die Familienerbstücke auf dem Gewissen habe. Es war leichtfertig, die kostbaren Juwelen mitzunehmen. Besser wäre es gewesen, ich hätte ein paar Teile des Silberbestecks genommen, die nicht so auffallend und damit leichter zu verkaufen gewesen wären. Lu hat behauptet, der Schmuck sei so heiÃe Ware, dass er unverkäuflich sei, denn jeder Juwelier, jeder Pfandleiher und jeder bekannte Hehler in der Stadt wüssten über seine Herkunft Bescheid und wollten mit der Sache nichts zu tun haben. Nun, irgendwie muss es ihm aber trotzdem gelungen sein, ihn zu Geld zu machen, oder? Wovon hätte er sonst meine neuen Kleider und alles bezahlen sollen?
Lu hat mich auÃerdem gefragt, was so schlimm daran sein soll, die Ohrringe meiner UrgroÃmutter nicht mehr zu besitzen. Ich war fassungslos. Wie konnte er nur eine so dumme Frage stellen? Das ist doch klar, dass Erbstücke dieser Art einen groÃen sentimentalen Wert besitzen, oder etwa nicht?
» Ich kenne noch nicht einmal meine GroÃeltern « , hat Lu mir darauf geantwortet. » Meine Eltern sind als Jugendliche auf andere Plantagen verkauft worden, der Kontakt zu ihren Familien ist abgerissen. Geerbt haben sie schon gar nichtsâ genauso wenig, wie ich von meinen Eltern irgendwelche Dinge bekommen hätte, an denen mein Herz hängt. Das Einzige, was ich habe, sind meine Erinnerungen. Und ich finde, die sind sowieso das Allerwertvollste. Wenn du mit Liebe im Herzen an deine Eltern denkst, oder auch an deine GroÃeltern, dann ist es gut. Wozu brauchst du da irgendwelchen Schmuck? Und deine UrgroÃmutter, die ursprüngliche Besitzerin, die kanntest du doch gar nicht persönlich. Warum solltest du also traurig sein, wenn du ihre Ohrringe nicht mehr hast? «
An dieses Gespräch denke ich nun zurück, und obwohl ich mit dem Kopf weiÃ, dass Lu recht hat, sagt mir mein Bauch etwas anderes.
» Was ist denn nun? « , ruft Lu mich in die Gegenwart zurück.
» Nichts. Ich komme schon. « Ich stecke den Briefumschlag in meine neue Handtasche, streife meine Handschuhe über und verlasse die Wohnung vor Lu, der hinter uns abschlieÃt und mein Gepäck nimmt. Lu und ich müssen wirken wie Dame und Dienerâ ich in der vornehmen Aufmachung, Lu wie üblich in zerlumpten Kleidern. Warum eine Dame ausgerechnet aus diesem heruntergekommenen Haus in einer nicht minder heruntergekommenen Gegend kommen sollte, ist nicht ganz schlüssig. Vielleicht denkt sich ein flüchtiger Beobachter, dass ich hier wohltätige Dienste verrichtet habe, am Sterbebett einer lieben Dienerin gebetet habe oder Ãhnliches.
Wir steigen in die Mietdroschke, die Lu gerufen hat und die vor dem Haus wartet.
» Zum Bahnhof « , sagt Lu in befehlsgewohntem Ton, bevor ihm einfällt, dass er ja nur mein » Diener « ist und gar nichts zu sagen hat.
Ich nehme auf der Passagierbank Platz, Lu schwingt sich zum Kutscher auf den Bock, und schon fahren wir los. Ich sehe die ärmlichen StraÃenzüge an mir vorüberziehen, die in den vergangenen Wochen mein Zuhause waren und die nun, aus dem Fenster einer Droschke betrachtet, etwas seltsam Fremdes haben. Dass Lu nicht auf der Bank neben mir sitzen kann, finde ich schade, denn plötzlich schieÃen mir tausend Fragen durch den Kopf, die er mir vielleicht beantworten könnte. Aber vielleicht auch nicht. Seinâ unserâ Plan hat zahlreiche Lücken und Tücken, und Lu ist sich dessen genauso bewusst wie ich. Es könnte gefährlich werden.
Die Fahrt dauert nur eine Viertelstunde. Früher fand ich es ganz normal, mit einer Kutsche solche Strecken zurückzulegen,
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